Volltext Seite (XML)
Juli 1886. .STAHL UND EISEN.“ Nr. 7. 489 mische Richtung der technischen Wissenschaften — man kann ruhig sagen — ausschliefslich auf den theoretischen, an den Hochschulen gepflegten Grundlagen beruht. Selbst dort, wo wie im Hüttenwesen der praktische Versuch bahnbrechend geworden ist, hat die Theorie auf die spätere, namentlich ökonomische Ausbildung der Processe einen bedeutenden Einflufs geübt. Er müfste ebenso zugeben, dafs auf allen Gebieten, welche von der Wärmetheorie beherrscht werden, also im Dampfmotoren- und Kesselbau, bei den Trocknungs-, Ventilations- und Heizungsanlagen, bei vielen chemischen und hüttenmännischen Processen u. s. w., ohne diese Theorie kein Schritt gemacht werden kann, wenn nicht unge heure Quantitäten an Arbeit und Material ver loren gehen sollen. Was wäre der Maschinenconstructeur, der Brückenbauer ohne die hochausgebildete Festig keitslehre? Heutigen Tages ein Unding, denn er würde entweder in eine Materialverschwendung verfallen, oder seine Constructionen würden in kurzer Zeit verschwinden. Dafs die deutsche Dampfmotoren- und Kessel- Industrie die englische entsprechende Industrie, die noch vor 30 Jahren beinahe ausschliesliche Herrscherin am Continente war, hauptsächlich mit Hülfe der Theorie besiegt hat, ist eine nicht zu bestreitende Thatsache. Auch die Erfindung der Präcisionssteuerung ist die, allerdings geniale kinematische Lösung eines von der Dampf- maschinen-Theorie aufgestellten Problems. Es existirt keine Maschine, die, und kein chemischer oder mechanischer Arbeitsprocefs, der nicht in seinen letzten Grundlagen auf die von der Theorie festgestellten Regeln und Gesetze zurückzuführen wäre, und wenn nun der reine Praktiker eine gut erdachte Aenderung an der Maschine oder an dem Arbeitsprocefs ausführt, so ist er dazu theilweise nur deshalb befähigt, weil eben die theoretischen Grundlagen seit Decennien in Fleisch und Blut der jetzigen Ge neration übergegangen sind und unbewufst in derselben fortwirken, und wenn Jemand glaubt, dafs hierzu eben die niedrigeren theoretischen Grundlagen genügen, so wolle er doch nicht vergessen, dafs der Umfang dieser von dem all gemeinen geistigen Niveau eines Volkes ab hängen, dieses aber stets durch die höchste Ausbildung der Wissenschaften und Künste, wenn auch nur mittelbar gehoben wird. Dafs diese letzteren auf den — wenn ich so sagen darf — allge meinen Volks verstand schärfend und überhaupt fördernd einwirken, kann nur leugnen, der gleich zeitig die Wirkung derselben auf die Höhe geisti ger Gultur perhorrescirt. Die Engländer sind keine starken Theoretiker und haben es in den technischen Künsten, na mentlich in dem kinematischen Theile derselben viel weiter gebracht als wir, aber sie sind uns auch um ein Jahrhundert mit diesen Bestrebun gen voraus, zum gröfsten Theile auch aus poli tischen Gründen, und wer ihren Selfactor mit kritischen Augen betrachtet, wird wohl zugeben müssen, dafs diese im Laufe eines Jahrhunderts langsam entstandene Maschine bewunderungs würdig arbeitet, er wird sich aber nach längerem Studium nicht verhehlen, dafs die kinematische Lösung der Aufgabe noch sehr viel zu wünschen übrig läfst und dafs eine vollkommene Umgestal tung derselben nicht ausbleiben kann. Ich glaube daher, dafs man mit geringerem theoretischen Wissen und mit dem Specialisiren an dieselbe Stelle zu gelangen vermag, wie mit hohem theoretischen Wissen, aber nur mit be deutendem Verlust an Zeit und Arbeit, und des halb bin ich — der ich zehn Jahre der berg- und hüttenmännischen und maschinentechnischen Praxis angehört habe — der Ueberzeugung, dafs Industrie und Gewerbe nur dort am besten ge deihen werden, wo höchstes theoretisches Wissen mit höchstem praktischen Können sich verbindet. Wenn Herr Schlink endlich bei der Erziehung der technischen Jugend den Gelderwerb als die Hauptsache hinstellt, so glaube ich ihn ver sichern zu können, dafs viele Praktiker meiner Meinung beistimmen, dafs diese Erziehung so eingerichtet werden müsse, dafs dem Jüngling das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt noth wendige Einkommen gesichert sei, dafs ihm aber auch der Weg zu den höchsten Stellen des technischen Lebens offen bleibe, und dafs er Sinn und Herz für den Culturzustand und für die politischen Freuden und Leiden seines Vol kes habe, und das wird durch eine auf weit gehendes Specialisiren gerichtete Erziehung ge- wifs nicht erreicht.