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Juni 1890. „STAHL UND EISEN.“ Nr. 6. 507 giren, obwohl ihre Beisitzer aus directen Wahlen hervorgehen und obwohl nach den Worten Bebels in der erwähnten Reichstagssitzung die Arbeiter vertreter „durch die Bank rothe Socialdemokraten“ sind. Aus den angegebenen Gründen wird denn auch, wenn es sich um die Zusammensetzung einer rein richterlichen Behörde handelt, von den wohlberechtigten Klassen auf das Wahlrecht und die Form seiner Ausübung wenig Werth gelegt; die Frage, wer einmal in Zukunft als Mitglied eines Gerichtscollegiums über einen heute noch nicht anhängigen Civilprocefs mitzuentscheiden haben wird, vermag eben nicht, irgend eine tiefere Erregung in den Kreisen der Wähler zu erzeugen.* Ganz anders liegt jedoch die Sache, wenn nach dem Vorschläge des Entwurfs den Gewerbe gerichten allgemein durch Gesetz die Befugnifs gegeben wird, sich bei Interessenstreitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitern auf Anrufen beider Theile als Einigungsamt zu constituiren. Die gesetzliche Begründung einer Einigungsinstanz wird bei der gegenwärtig fast allgemeinen Gäh- rung in der Arbeiterwelt, bei den fast überall nach Art epidemischer Krankheiten hervorbrechen den Ausständen, aller Voraussicht nach zur Folge haben, dafs die Gewerbegerichte häufig — sei es auch im einzelnen Falle vielleicht nur aus takti schen Gründen — um ihre Vermittlung ange gangen werden, und hierdurch werden die Wah len der Gewerbegerichts-Beisitzer einen ganz andern Charakter als früher annehmen. Schon in unserm ersten Artikel wurde darauf hin gewiesen, dafs die Vereinigung einer rein richter lichen und einer entschieden administrativen Thätigkeit in der Hand einer Behörde grofse Bedenken habe; ein fernerer Nachtheil der inner lich nicht gerechtfertigten Verbindung des Eini gungsamts mit dem Gewerbegericht liegt darin, dafs die Wahlen der Beisitzer des letzteren in den auf der ganzen Linie entbrannten Interessen kampf zwischen Arbeitgebern und Arbeitern hinabgezogen werden. Die hiermit verbundene Gefahr mufs durch ein geeignetes Wahlsystem möglichst abgeschwächt werden, wenn überhaupt die Einigungsämter einen günstigen Einflufs auf die socialen Verhältnisse haben sollen. Denn für die Thätigkeit des Einigungsamts fehlt es an jeder bindenden Rechtsregel und ebenso an einem sich in festen Formen abspielenden Verfahren, es ist deshalb für diese Seite der gewerbegericht lichen Thätigkeit ein entscheidender Werth darauf zu legen, dafs die Mitglieder durch ihre per sönliche Gesinnung die Gewähr für eine sach liche und leidenschaftslose Behandlung der ihnen vorgelegten Fragen bieten. * In Offenbach nahmen im Jahre 1886 von 380 wahlberechtigten Arbeitgebern nur 68, von etwa 5000 Arbeitern nur etwa 400 an der Beisitzerwahl theil (Jahresberichte der Fabrikaufsichtsbeamten 1886, S. 78). Wir sind der Meinung, dafs bei der gegen wärtigen Erregung der Arbeiterwelt diese Gewähr hinsichtlich der aus den Arbeitern zu entnehmen den Beisitzer nicht gegeben sein wird, wenn die Wahl derselben auf directem Wege stattfmdet. Es ist hier nicht der Ort, theoretisch die Vortheile und Mängel der verschiedenen Wahl systeme gegen einander abzuwägen, Niemand wird aber bestreiten, dafs das allgemeine directe Wahl recht mehr als ein indirectes System dem ge schickten und gewissenlosen Agitator die Mög lichkeit zur Beeinflussung urtheilsloser Wähler bietet. Wird für die Wahlen der Beisitzer des Einigungsamts ein allgemeines, directes und ge heimes Verfahren angenommen, so ist zu fürch ten, dafs stets diejenigen Kandidaten den Sieg davontragen werden, welche in verleumderischen Angriffen gegen die Arbeitgeber und in terrori stischer Einschüchterung der wohlgesinnten Ar beiter am weitesten gehen. Dafs aber dann das Einigungsamt keine Erfolge zu verzeichnen haben wird, bedarf keiner Ausführung, und man wird es den Arbeitgebern nicht verdenken können, wenn sie von der Anrufung einer derart zusam mengesetzten Vermittlungsinstanz überhaupt ab sehen. Noch mehr: diese Wahlen würden den Führern der Socialdemokratie nur die Gelegen heit zu neuen „Kraftproben“ geben. Da die Dauer des Mandats als Beisitzer auf ein Jahr beschränkt werden kann, würden wir vielleicht alljährlich ein verkleinertes aber nicht minder intensives Abbild der Reichstagswahl mit ihrer Aufregung und allseitigen Verhetzung durchzu machen haben. Man darf diesen Ausführungen nicht ent gegenhalten, dafs eben nur bei der unmittelbaren Wahl die Arbeiter in der Lage seien, die Männer ihres Vertrauens zu wählen und dafs deshalb nur bei diesem Wahlsystem die Gewerbegerichte das für eine erspriefsliche Wirksamkeit, speciell auch in einigungsamtlicher Hinsicht, notwendige Ver trauen geniefsen würden. Mit vollem Rechte erklärte vielmehr der Abgeordnete Struckmann in der mehrfach erwähnten Reichstagsverhandlung: „Es kommt schliefslich nicht darauf an, dafs unmittelbar von jedem einzelnen Arbeiter — das ist überhaupt nicht möglich — die Wahl vor genommen wird, sondern dafs das schliefsliche Resultat ein derartiges ist, dafs diejenigen, welche als Beisitzer in den Gewerbegerichten sitzen, als wirkliche Vertreter der betreffenden Interessenten kreise können angesehen werden; und wir können uns denken, dafs das auch sehr wohl geschehen kann, wenn die Wahlen durch Vermittlung solcher Organe, welche als unzweifelhafte und unver fälschte Vertreter der betreffenden Interessenten kreise ihrerseits angesehen werden können, vor genommen werden.“ Mit aller Entschiedenheit müssen wir uns also bezüglich der von den Arbeitern zu wählen-