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„Ja, und Mama meint auch, Onkel lade sich eine zu große Last auf mit uns. Darüber wurde Onkel so furcht bar zornig. Er hat die arme Mama gescholten, und sie hat gesagt, sie könne so etwas nicht auShaltcn, das sei ihr Tod. Er solle nie wiederkommcn, wenn er sie so quälen wolle. Und da ist er gegangen, für immer. Des halb ist's ja doch unmöglich, daß wir ihn zu Mama schicken, nicht wahr?" Der Gefragte entschied sofort mit der ganzen Energie der höheren und besseren Einsicht: Nein, das ist durch aus nicht unmög lich. „Er wird gehen? Meinen Sie?" „Er wird gehen! Ganz bestimmt!" „Aber wie wird Mama erschrecken, wenn sie ihn sieht!" „Na, laß das nur gut sein!" „Aber wenn sie hört, was mir ge schehen ist?" „Das wird er ihr so schonend sa gen, wie irgend möglich! Verlaß dich drauf! Komm Kind, wir wollen gleich einmal an ihn schreiben!" „Also ja, wenn Sie meinen! Er soll rasch zu mir kommen, eh' er zu Mama geht. Ich muß erst mit ihm reden." Im nächsten Augen blick hatte der gute Doktor ein Brief- blalt und den Tintenstift bei der Hand und schrieb, waö sie ihm leise und deutlich diktierte: „Lieber Onkel! Ich bin überfahren worden und liege im Hospital; mein Arm ist gebrochen. Mama weiß gar nichts. Lieber Onkel, komme doch gleich mal zu mir! Mit Gruß und Kuß Deine Lott e." „Und die Adreffe?" Charlotte zögerte noch, als gäbe sie ein Geheimnis preis. Dann sagte sie, jede Silbe betonend: „Herrn Rittmeister von Nostitz, Alleestraße 5, Hoch- parterre." Der Brief wurde durch Boten bestellt und traf den Adressaten zum Glück zu Hause. Es dauerte keine halbe Stunde, so war er zur Stelle. Der junge Mediziner war noch im Saal beschäftigt und empfing ihn an der Tür. Der Rittmeister, eine echt«, hagere, hohe Ritter» gestalt mit kühnen, wetterbraunen Zügen und eigentüm lich tiefem, blitzendem Blick war in sichtlicher Bewegung. Das war noch ein Handdruck, mit er dem Doktor seine beruhigenden Worte lohnte! Er sagte mit einem hörbar tiefem Atemzuge: „Gott sei Dank!" und wollte dann fröhlich, mit einem tröstlichen Scherz auf Lottchens Bett zugehen. Aberder Anblick derblassen Kleinen im groben, bunten Armennachtzeug mit der Armbinde/ dem nassen Tuch um das Köpfchen, dem LiebcSblick in den fieberheißen Augen, dem Lysol- und Chloroform geruch um sie her übermannten ihn. Ersaß eine ganze Weile stumm ne ben dem Bett, um faßte nur zärtlich die kleine freie Hand, liebkoste die schmalen Wangen und das unter der Kompresse hervor quellende feinfä- dige Haar. Man sah, mit den: zar testen Empfinden seiner Seele hing er an diesem Kind. Erst nach einer Weile begann er, sieberzbafi zu schel len. „Was machst du denn für Srrei- cbc, du leichtsinni ges , schreckliches Kind?" Sic erzählte ibm klar und verstän dig, wie alles gekommen war, bat ihn, zu Mama zu gehen, und schalt ihn dabei herzhaft wieder: „Wie konntest du neulich eigentlich so böse sein? Wie hast du uns so lange vergessen können?" Er sagte bitter: „Ich wollte nie wiederkommcn. Deine Mama mag mich ja nicht!" „Ach du!" verwies sie ihn ganz aufgebracht. Und dann fand leise und flüsternd, in wenigen Sekunden, «ine lange, inhaltrcichc Unterredung statt. Sie batte ibm unter Schlucken und Schluchzen viel zu sagen. Ihr Herz war so schwer. Alle Tränen, die ihre vergötterte Mutter in den letzten Tagen geweint hatte, lasteten darin. Für ihn aber klang aus diesem altklugen Kindergcflüstcr das höchste Erdcnglück. Heller und heiterer wurde sein dunk les Antlitz mit jedem Wort. „Und nicht wahr, Onkel, nun gehst du rasch zu Mama und sagst es ihr, weißt du, so recht gut, recht still, was