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Die Kunstseide. Von Otto Both, Barmen. Kunstseide ist heute für die Textilindustrie ein sehr wichtiges Material. Es wird bedeutend mehr künstliche Seide verarbeitet als natürliche. Der Aufschwung, den die Kunstseidenfabrikation in so kurzer Zeit genommen hat, ist auf dem Gebiete der Textil industrie beispiellos. Doch wie bei allen Dingen, die einen großen Erfolg zu ver zeichnen haben, ist es auch bei diesem jungen Fadenmaterial: Den vielen Anhängern steht eine große Zahl von Feinden gegenüber. Die Kunstseide erfährt sowohl aus den Kreisen der verarbeiten den Industrie, als auch aus den Verbraucherkreisen viel An fechtungen. Zum Teil sind diese berechtigt, der Grund liegt in den noch vorhandenen Mängeln der künstlichen Seide, die man feststellen muß, um darauf hinzuwirken, das Produkt weiter zu verbessern. Ein großer Teil der Vorwürfe entspringt aber der Verken nung des neuen Fadenmaterials. Man darf von dem künstlich her gestellten und viel billigeren Faden nicht dasselbe verlangen wie von der bedeutend teureren Naturseide. Man muß sich darüber klar werden, daß es sich nicht darum handeln soll, das neue Pro dukt dem alten vollständig anzugleichen, sondern Aufgabe muß es sein, zwei gleichberechtigte, in ihrer Art möglichst vollkommene Erzeugnisse nebeneinander zur Geltung zu bringen und auszu nutzen. Ähnlich, wie es heute zwischen Kunstseide und Seide ist, stand es früher einmal zwischen Baumwolle und Wolle. Der Name „Baumwolle“ deutet schon darauf hin, daß man anfangs glaubte, einen Ersatz für die tierische Wolle darin gefunden zu haben, letztere damit ersetzen zu können. Die Baumwolle hat sich jedoch vermöge ihrer besonderen Eigenschaften und ihrer Billig keit ihren Platz erobert, ohne die Wolle (bzw. das Leinen) zu ver drängen. Wenn man von diesem objektiven Standpunkt aus die Kunst seide beurteilt, wird man eine ganze Reihe von Vorwürfen fallen lassen müssen. Ein anderer Teil der Vorwürfe wird dadurch hin fällig, daß der Verarbeiter, der sich einmal über die Verschieden artigkeit der beiden Fadenarten klar geworden ist, nicht mehr die Fabrikationsvorgänge der Naturseidenverarbeitung ohne weiteres auf die der Verarbeitung der Kunstseide übertragen kann und wird. Der Verarbeiter wird vielmehr versuchen, die Herstellung der Kunstseide kennen zu lernen, die Eigenart des Fadens zu studie ren, um seine Verarbeitungsweise darauf einzustellen. Und je eher und je besser ihm das gelingt, um so schneller und größer wird der Erfolg sein. Die nachfolgenden Ausführungen mögen etwas zur Erreichung dieses Zieles beitragen. Die Erfindung der Kunstseide ging von dem Gedanken aus, den natürlichen Seidenfaden, also das edelste und teuerste Faden material durch ein auf künstlichem Wege hergestelltes, gleich wertiges aber billigeres Erzeugnis zu ersetzen. Das Material für die natürliche (reale oder klassische) Seide bildet der Faden, mit dem die Seidenraupe den Kokon spinnt, in dessen schützender Um hüllung sie sich verpuppt. Die Seidenraupe nährt sich von den Blättern des Maulbeerbaumes. Die Spinnmasse befindet sich in flüssigem Zustande in winzigen Spinnkammern im Innern der Raupe. Sie wird von der Raupe durch zwei feine Spinnröhrchen hinausgedrückt. Die beiden dünnen Flüssigkeitsstrahlen erhärten und vereinigen sich im Spinnrüssel gleichzeitig zu einem Kokon faden, indem sie durch eine leimige Substanz miteinander verklebt werden. Der Kokonfaden besteht aus dem eigentlichen Seiden faden (Fibroin), 75% von seinem Gewichte ausmachend, und der die beiden Spinnfädchen verbindenden gemeinsamen Umhüllung, dem Seidenbast oder Serizin mit 25 Gewichtsprozent. So ist die reale Seide ein reines Naturprodukt, das einzige Material, das uns gleich in Fadenform von der Natur geliefert wird. Der einzelne Kokonfaden ist jedoch zum Verweben zu zart und zu fein. Nun setzt die menschliche Tätigkeit ein. In den Seidenzwirnereien vereinigt man mit ganz geringer Drehung eine (Nachdruck verboten.) kleine Zahl der Kokonfäden zu dem Rohseidenfaden oder Gräge- faden, der im rohen Zustande verwebt werden kann. Mehrere Gregefäden mit geringer Drehung miteinander verzwirnt, ergeben die Schußseide, Trame genannt. Werden die Gregefäden dagegen unter schärferer Drehung verzwirnt, so erzielt man Kettseide oder Organsin. Die Erfinder der Kunstseide suchten den Entstehungsprozeß der natürlichen Seide möglichst genau zu erforschen und nachzu ahmen. Sie gingen von dem richtigen Grundsätze aus, daß, weil die Nahrung der Seidenraupe aus Maulbeerblättern besteht, also pflanzlichen Ursprungs ist, man zur Herstellung künstlicher Seide auf das Grundmaterial der Pflanzen, d. i. Zellstoff, zurückgreifen müsse. Am reinsten ist der Zellstoff in den Bauniwollfasern und im Kiefernholz enthalten. Bei der Baumwollfaser und bei dem Kiefernholz beginnt man also. Die Baumwollfasern, die sog. Linters, d. s. die Abfallfasern bei der Baumwollgewinnung, machen eine Entholzung unnötig. Aus dem Kiefernholz dagegen müssen erst in den Zellstoff werken die fremden Beimengungen entfernt werden. Der Zellstoff wird in Pappenform den Kunstseidenfabriken geliefert. Die Fabri ken, welche nach dem sog. Kupferverfahren arbeiten, benutzen Linters. Zellstoff in Pappenform verwenden diejenigen Werke, welche nach dem heute überwiegend benutzten Viskoseverfahren spinnen. Der Zellstoff wird von den Kunstseidenfabriken auf chemi schem Wege in eine dickflüssige, honigartige Spinnmasse verwan delt (entsprechend dem Verdauungsprozeß der Seidenraupe). Diese Verwandlung beansprucht eine Zeitdauer von 5—7 Tagen. Die Spinnflüssigkeit muß einen ganz bestimmten Grad von Reife und Viskosität haben, d. h. sie darf weder zu dickflüssig noch zu dünnflüssig sein. Sie soll ferner keine Unreinigkeiten zeigen und muß gut evakuiert sein. Die Herstellung der Spinnmasse ist der erste und wichtigste Teil der Kunstseidenspinnerei. Was auf diesem rein chemischen Gebiete verdorben wird, ist nicht wieder gut zu machen. Entspricht die Masse nun den an sie gestellten Anforderungen, so setzt der zweite Teil der Fabrikation, die mehr mechanische Tätigkeit ein: Die Umformung der Flüssigkeit zu festen Fäden. Aus den Lagerkesseln wird die Spinnmasse durch Röhren den Spinnmaschinen zugeführt. Jede Maschine ist für eine bestimmte Fadenzahl eingerichtet. Die Menge der den einzelnen Läufen (Fadenformern) zugeführten Substanz reguliert man durch ein gebaute kleine Pumpen. Die Fördermenge der einstellbaren Pumpen wird genau nach dem Titre berechnet, den man herstellen will. Die Pumpe drückt die Flüssigkeit durch die sog. Spinndüse, welche die Form eines kleinen Fingerhutes hat. Die Düse enthält in ihrem Boden eine Anzahl Bohrungen von etwa 0,06—0,1 mm Durchmesser. Die Anzahl der Öffnungen schwankt je nach der Nummer der zu spinnenden Seide. Durch jede Öffnung der Düse entweicht ein feiner Strahl der flüssigen Spinnmasse. Hat die Düse z. B. eine Bohrung von 30 Löchern, so werden 30 feine Strahlen in das sog. Fällbad hineingedrückt. Die chemische Zu sammensetzung des Fällbades ist von großer Wichtigkeit; sie wird von den einzelnen Betrieben als Fabrikgeheimnis gewahrt. Im Fällbad erstarren die Flüssigkeitsstrahlen, werden in ihrer Gesamt heit aufgefangen, von der Düse abgezogen und aufgewickelt. Sie ergeben zusammen einen Kunstseidenfaden. Danach liefert also jede Düse einen einzelnen Kunstseidenfaden, der aus einer größe ren Zahl von Spinnfädchen besteht, der Bohrung der Spinndüse entsprechend. Der Siriusfaden, eine Roßhaarimitation, entsteht dadurch, daß man die Spinnflüssigkeit durch eine Spinndüse drückt, die nur eine einzige, größere Bohrung hat. Der Siriusfaden besteht also nicht aus einer Zahl von Einzelspinnfädchen, sondern ist ein dicker, starrer, ungeteilter Zellulosefaden. Zur Anfertigung von Visca benutzt man Spinndüsen mit einer