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Textil-Technischer Teil Aus dem Inhalt: Textilwirtschaft und Leipziger Frühjahrsmesse. — Probleme der Kunstseide und der Textilmaschinen. Von Direktor Paul Voss. — Der deutsche Normenausschuß auf der Leipziger Messe. — Über Untersuchungen mittels des E. Müller’schen Scheuer-Apparates und seine Anwendungsweise und Verwendungsfähigkeit. Von Dr. Ing. H. Vollprecht. — Die Kunstseide. Von Otto Both. — Maschinen und Maschinenelemente in der Kunstseidenindustrie I. Von einem Kunstseidenfachmann. — Die Herstellung von Kunstseideneffekten auf Baumwollgrund. Von Franz Schmidt. — Die Glanzstellen im Kunstseidengewebe, ihre Ursache und Vermeidung. Von W. Binder. — Der „Auerbach“-Schützenauswechsler. Von Oberstudiendirektor Prof. Gräbner. — Die Spezial- Plüsch-Strickmaschine. Von Robert Fabian, Textil-Ingenieur. — Neue Erfindungen auf dem Gebiete der Textiltechnik. — Der Textil-Technische Ratgeber. — Bücherschau. — Mechanische Aufzucht von Seidenraupen. Textilwirtschaft und Leipziger Frühjahrsmesse. Probleme der Kunstseide und der Textilmaschinen. Von Direktor Paul VOSS. Auf einer Pressekonferenz, die im Januar 1926 im Leipziger Meßamt stattfand, wurde die Leipziger Messe von autoritativer Seite als „die gleichzeitige Vereinigung aller Fachmessen an einem Ort“ charakterisiert. Universalität und übersichtliche Glie derung zugleich ist also die spezifische Eigenschaft dieser größten Musterschau der ganzen Welt. Von den zahlreichen Spezial gruppen der Leipziger Messe hat es in den letzten Jahren die Leipziger Textilmesse fast regelmäßig auf die höchste Aussteller zahl gebracht. So waren auf der Leipziger Herbstmesse 1925 von insgesamt 12 208 Ausstellern nicht weniger als 1444 Angehörige des Textilgewerbes. Dies entspricht der Tatsache, daß heute im deutschen Export, dessen Förderung die Leipziger Messe sich ja ganz besonders zum Ziele gesetzt hat, die Textilindustrie voran steht — mit 15,8% der deutschen Gesamtausfuhr im ersten Halb jahr 1925. Die Leipziger Frühjahrsmesse 1926, die bekanntlich am 28. Februar beginnt, steht weitgehend im Zeichen einer groß zügigen Aktion zugunsten der Interessen der deutschen Textil wirtschaft. Dies bekundet sich vor allem in der Veranstaltung der ersten großen „Deutschen Kunstseiden-Ausstellung“, die in den der deutschen Textilwirtschaft bereits wohlbekannten Räumen des Grassimuseums am Königsplatz stattfinden wird. Kunstseiden erzeugnisse bilden seit jeher einen wichtigen Bestandteil der Musterschauen der Textilmesse. Die nunmehr durchzuführende Ausstellung verfolgt daneben einen besonderen Zweck. Es han delt sich hier darum, -nicht nur die deutschen und ausländischen Textilinteressenten, sondern überhaupt die weitesten Kreise der Öffentlichkeit über die gewaltigen Fortschritte der deutschen Kunstseidenerzeugung und Kunstseidenverarbeitung eingehend zu informieren. Deshalb wird die Ausstellung nach Abschluß der Textihnesse noch für mehrere Tage dem großen Publikum geöffnet. Diese Ausstellung kommt, von höherer volkswirtschaftlicher Warte aus gesehen, gerade zur rechten Zeit. Die Kunstseide hat es in den letzten Jahren, namentlich dank der Pionierarbeit der deutschen chemischen Industrie, zu hoher Bedeutung auf dem internationalen Markte gebracht. Ihr Sieges zug ist dem der Baumwolle vergleichbar, vollzieht sich aber noch wesentlich schneller. Die Kunstseide läßt sich praktisch in be liebiger Menge produzieren, vor allem aus dem reichlich verfüg baren Grundstoffe Holz, auf dem Wege über die Zellulose. Dem gemäß erstreckt sich in Deutschland die Kunstseidenindustrie von der Urproduktion bis zum letzten feinsten Enderzeugnis. Auch in anderen Ländern ist die Kunstseidenproduktion in den letzten Jahren stark aufgeblüht, so namentlich in Amerika und in Eng land, in Italien und auch in Frankreich. Selbst in den ursprüng lichen Heimstätten der Naturseidengewinnung faßt sie heute Fuß, wobei es als ein weltwirtschaftliches Kuriosum zu erwähnen ist, daß die Türkei in ihrem Lande keine Kunstseidenherstellung ge statten will, um der Naturseide des Brussa-Distriktes keinen Ab bruch zu tun. Das ist natürlich eine sehr einseitige Auffassung. In den großen Textilindustrieländern hat man es schon längst er kannt, daß die Kunstseide nicht im mindesten mit den Interessen des Naturseidengewerbes kollidiert. Sie hat ihre vollkommen selbständigen Aufgaben; sie ist ein Massenerzeugnis für den Mas senbedarf, insbesondere auch als ein Gegenstand gemischter Ver arbeitung. Für Deutschland hat sich die Kunstseide zu einem wichtigen Exportprodukt entwickelt. Mit Amerika und England befinden wir uns in der Spitzengruppe der Kunstseidenerzeuger. Aber der Konkurrenzkampf ist außerordentlich scharf. England hat be kanntlich im vergangenen Jahre die Einfuhr von Kunstseidenfabri katen mit einem Zoll von einem Drittel des Fakturenwertes be legt. Andererseits entfaltet Italien mit Hilfe seines niedrigen Valutastandes lebhaften Export, um durch Preisunterbietung auch auf dem deutschen Absatzmärkte einzudringen. In diesem Zeit punkt gilt es für uns, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um un geachtet aller Wirtschaftsnöte dieser Zeit unserer Kunstseiden produktion noch über ihre jetzige Bedeutung hinaus neue Märkte und neue Verwendungsmöglichkeiten zu erschließen. Die Kunstseidenindustrie ist eine der ganz wenigen Produk tionszweige, die auch in der gegenwärtigen Periode der Geld knappheit und der allgemeinen Depression als bedeutsame Aus nahmen florieren, sich erweitern und Gewinne bringen. Es ist ganz logisch, daß man dann solche Positionen noch mit besonde rem Eifer ausbaut. Die Fachkreise des Auslandes haben unserer Kunstseidenproduktion ihre Anerkennung bekundet, indem der führende englische Konzern eine Interessenverbindung mit einem führenden deutschen Unternehmen der Branche einging, und indem ferner amerikanische Interessenten es veranlaßten, daß ein anderes deutsches Unternehmen von Weltruf eine Zweiggründung in Ame rika vornahm. Die Öffentlichkeit des internationalen Marktes hat davon erfahren und ihre Kommentare daran geknüpft, wie über haupt immer wieder Einzelheiten aus der deutschen Kunstseiden industrie allgemeinem Interesse begegnen. Aber es fehlte bisher doch eins: die Zusammenfassung dieser Einzelresultate in einer großzügigen repräsentativen Schau dieses Produktionszweiges. Hier tritt die „Deutsche Kunstseideri-Ausstel lung“, Leipzig, Frühjahr 1926, ein. Instruktiv spiegelt sie den ganzen Herstellungsprozeß wieder, vom Holzklotz bis zum Kunst seidenstrumpf und zur Kunstseidenkrawatte. Die verschiedenen Firmen bieten ihre Leistungen dar, insbesondere auch ihre Spezia litäten. Ein wichtiges Ziel wird darin erstrebt, daß man der Kunstseide neben der technisch überaus hochstehenden Erzeugung des Kunstseidengarnes auch die ausnahmslos hochqualifizierte Ver arbeitung sichern will. Das Kunstseidenfertigfabrikat soll billig und doch zugleich eine Qualitätsware sein. Der Ausstellung kommt in diesem Sinne eine nicht zu unterschätzende erzieherische Aufgabe zu. Erzieherisch auch in dem Sinne, daß das Publikum daran gewöhnt wird, Kunstseidenprodukte unvoreingenommen und richtig zu beurteilen. „3>cr ffextil-Jngenieur“, siehe Seife 53