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Wahrheiten und -Tatsachen. Zwar ist sie durch ihr Objekt die erste und vornehmste der Wissenschaften; aber der Form nach untersteht sie dem allgemeinen Gesetz verstandesmäßiger Analyse, mit anderen Worten dem wissenschaftlichen Denken, genau wie jede andere Wissenschaft. Und wie daher Kunst und Wissenschaft schon im allgemeinen als getrennte Geiflestätigkeiten anzusehen sind, so ist es auch hier nicht die Religions wissenschaft, von der das dichterische Schaffen seine Inspirationen emp fängt, sondern die Religion. Gewiß wird der Dichter und der Künstler die Theologie so wenig wie irgendeine andere Wissenschaft geringschätzen oder gar verachten. Die Wissenschaft im allgemeinen wird ihm sogar als ein Gegenstand der Auseinandersetzung über die wichtigsten Fragen des Lebens und der Welt zeitweilig zu einer Existenznotwendigkeit werden. Er braucht sie zur Erweiterung seiner Einsichten in die Dinge, in die Men schen, in sein eigenes Innere. Seine bildende Kraft wird auch diese Gebiete zu ergreifen suchen, dabei jedoch immer mehr gebend als empfangend. So hat sich auch Goethe der Wissenschaft zugewendet. Aber nie in vollem Sinne als Wissenschaftler, sondern stets als Künstler, Bildner, Dichter. So hat er auch die Wissenschaft weniger als analysierender Forscher, denn als intuitiver Denker gefördert. Er betrachtete ihre Fort schritte, Wandlungen, Irrtümer mit Vorliebe in ihren Wirkungen auf die Menschen; selbst in den dogmatischen Abstraktionen reizte ihn noch die lebendige Kraft, die dahinter stand, während er die Erörterung abstrakter Probleme für seine Persönlichkeit als Dichter gleich „falschen Tendenzen" abwies. Nur was ihm an einer Wissenschaft seelisches Erlebnis werden konnte, hielt er wert, alles andere lehnte er als störend, kunstfeindlich ab. In einem bereits erwähnten Buch „Wartburgfahrten" (Luzern 1909) schreibt Meyenberg: „Das alles bedingt auch eine edle, freie Beratung und Mitarbeit hervorragender Theologen. Ich rede nicht von einem Sichaufdrängen der Theologen. Die Theologen haben aber hinsichtlich der schöngeistigen Literatur und hervorragender Literaturzeitschriften ein« ganz eigenartige, doppelte Aufgabe: eine kritische und eine positiv neu schaffende Die positiv schaffende Arbeit besteht namentlich darin, daß die Theologen die religiösen Gedanken und Stoffe in kirchlicher Korrektheit, tief und wahr und dazu in einer lebensvollen und farbenfrischen, ich möchte beinahe sagen, künstlerischen Art empfinden und darbieten. Wo theologische Korrektheit, Klarheit und Genauigkeit mit künstlerischem Empfinde» und Schaffen, mit Weitblick und Weitherzigkeit sich verbinden,