Volltext Seite (XML)
60 Das Ewig-Weibliche und die Kunst vollem Maße entnommen werden konnten, nun aber aus ihr Lebenskraft und Nahrung saugen. Die eigene Persönlichkeit wird durch solch hin gebendes Verständnis an die Gefühls-, Denk- und Existenzweise anderer fruchtbar erweitert, und wer etwa glauben möchte, daß dabei Charakter losigkeit im Spiele sein müsse, der verkennt die angeborene Beweglich keit der künstlerischen Seele von Grund aus.*) 1) Es ist in letzter Zeit wiederholt vorgekommen, daß man von der intimen Lebenskenntnis besonders weiblicher Autoren auf deren praktische Lebensführung und persönliche Moral schloß und dann zu herbem Urteil sich Hinreißen ließ. Wie kann, so fragen solche Philisternaturen, eine Dichterin mit solcher Kenntnis von diesen Dingen schreiben, ohne persön liche Erlebnisse dieser Art gehabt zu haben? Wenn aber, was haben wir von einer solchen Persönlichkeit moralisch zu halten? Das heißt doch mit nackten Worten: Ein jeder Dichter ist einmal mehr oder minder gewesen, was er darstellt. Eine ungeheuerliche Auffassung! Und doch wissen wir aus der Literaturgeschichte, daß bei den meisten Autoren die äußeren Erlebnisse oft gerade im umgekehrten Verhältnis stehen zu der Genauigkeit, mit welcher sie gewisse Zustände, Vorfälle, Gefühle und Charaktere schildern. Das ist ja gerade das Auszeichnende der wahren Künstlernatur, fremdes Schicksal, fremde Seelenzustände kraft der Phantasie und seelischen Intuition wie die eigenen zu erleben. Moralisten, die des Glaubens sind, jede derartige Einfühlung in Zustände, die bei einem Jnstinktmenschen durch den Begriff der Sünde umschlossen werden, könnten ebenfalls nur wieder sündhaft sein, müssen konsequenterweise alles dichterische Schaffen ablehnen. Wo aber kämen wir bei solch innerer Unfreiheit mit aller großen Dichtung hin? Und müßte diese Besorgnis nicht ebensosehr auf die Kasuisten gehen, bei denen man gewisse Traktate nicht lesen kann, ohne fortgesetzt zu staunen über die intime Kenntnis von Dingen, die sie doch jedenfalls nicht erlebt haben. Im Grund genommen haben wir es hier mit der selben veralteten Anschauung der Frau gegenüber zu tun, die überhaupt jedem öffentlichen Wirken des Weibes mit gemischten Gefühlen gegen übersteht. Als vor bald hundert Jahren Jakob Grimm sich Aber die deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts aussprach, da war es seine äußerliche Auffassung der Frauenwürde, die ihn hinderte, die kom mende Entwicklung vorauszufühlen. Er schrieb damals: „Durch öffentliches Vortreten und Lautwerden versehrt das Weib seine angeborene Sitte und Würde. Wahre Dichtkunst läßt sich nicht abfinden, sie fordert, daß der Dichter frei aus ungehemmter Brust singe. Wie kann eine Frau das Ereignis einer Liebe, eines Kusses vor aller Welt erzählen? Frauen ist die Gabe eigen, mit unglaublicher Gewandtheit die Verhältnisse eines Hauses, einer Gesellschaft zu erschauen, die Gabe, mit zartester Feder die Beobachtungen innig vertrauten Personen mitzuteilen; fast jede Literatur besitzt einige solcher Sammlungen voll unnachahmlicher Natürlichkeit, die nach dem Tode ihrer Verfasserinnen zuweilen bekannt gemacht worden sind.