62 Das Ewig-Weibliche und die Kunst In diesem vielseitigeren Verhältnis zum Leben scheinen heute die Frauen den Männern überlegen zu sein. Mag der Mann als solcher auch fähig sein, eine größere Gegensätzlichkeit der seelischen Vermögen in sich zu vereinigen, so hat die weibliche Psyche heute die zur Kunst be fähigenden Vermögen jedenfalls in einem durchschnittlich höheren Maße oder vielmehr in einer seineren Ausgeglichenheit. Wie weit ihre allge meine Ausbildung durch den noch immer wesentlich anders gearteten Schulunterricht dabei in Frage kommt, kann hier unerörtert bleiben. In bezug auf die religiöse Bildung jedoch machen wir die Beobachtung, daß die Frauen heutzutage viel leichter ein fruchtbares Verhältnis zur Religion gewinnen als der Mann, ein Unterschied, der sich vielleicht auf die nicht allzu paradox klingende Formel bringen läßt, daß die Frau ihre Religion erlebt, der Mann aber sie vielfach nur erlernt. Tatsäch lich ist heute die Zahl der im tieferen Sinne religiösen Männer unter den Katholiken kleiner, als man glaubt. Der Augenschein kann hier ge waltig täuschen. Und er täuscht um so leichter, je mehr mit der Zu zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft auch andere als nur rein religiöse Interessen verknüpft sein können. Gerade für den Mann unserer Tage verschärft sich daher sein vorwiegend intellektuelles Ver hältnis zur Religion dadurch, daß es unter dem Einfluß einer starken Durchsetzung der religiösen Neigungen mit politisch-wirtschaftlichen Inter essen und dieser mit jenen leidet. Indem hier der ganze Intellekt voll kommen im Dienste des Wollens aufgezehrt wird, verbleibt für die an schauende Erkenntnis, welche das mit Interessen behaftete Individuum zum rein kontemplativen Subjekt erhöht, nichts mehr übrig, und hier scheint ein tiefer Grund für die künstlerische Unfruchtbarkeit unter den deutschen Katholiken zu liegen. Die Frau mit ihrer mehr unbewußten Religiosität verfügt nicht bloß über eine größere Beschaulichkeit, sondern tritt bei weitem sicherer sowohl in bezug auf sich selbst als auch gegenüber einer allenfalls lauerndes Kritik auf. In ihrer mehr erlebten als intellektuell erarbeiteten Weltan schauung, worin ihre ganze Persönlichkeit verankert ist, gewinnt sie die mit allem mehr oder minder Unbewußten verbundene Sicherheit, sich, wenngleich nur im Interesse künstlerischer Arbeit vorübergehend, auch in anderen Weltanschauungen, Denk- und Gefühlsweisen heimisch zu machen. So vermag sie das Leben nicht bloß durch eine Brille, sondern durch ebenso viele zu sehen, als sie Menschen darstellt. Theoretische Ein wendungen werden sie in diesem Tun nur wenig beirren. Denn dieses