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Mit««, IS. Ixiiiur lsi«. MMSKN Nr. 27. Morgen'Nusgave. Sette 7 Leipziger Tageblatt. Kunst unct wissensetiatt SNEZSZ und sich noch Gefühlsinhalt und Stimmung ergänzen. Man Hal Bruckner den Adagiokoinponisten genannt, und der dritte Satz dieser C-Moll-Sinfonie beglaubigt gleichsam die Existenzberechtigung solch eines Ehren titels. Das Adagio ist ein über die Mähen wunder voller Sah. Bielleicht liehe er sich am ehesten mit Wor- ten aus Goethes zweitem Faustteil einigermahen er schöpfend inhalrlich veranschaulichen. Ter Tondichter steht aus seiten jener, „die sich erlaben am neuen Lenz und Schmuck der oberen Welt". Die grohe Sehn sucht beherrscht und füllt ihn vollkommen aus, und er wird zum begeisterten Seher, gleich Lynkeus dem Türmer „zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt". Scine Seele ist befreit uno ganz begriffen in er habenster mystisch visionärer Verzückung. Lange hält sie I>ci! nuj solchem Höyepuntt, bis fie endlich langsam herabfintl in den Zujlano sanft melancholi,cher Reji- gnation. Repräsentiert dieser Sah die Einwirkung himmlischer Mächte, >o offenbart das folgende Scherzo die Betätigung kraftvoll sich äußernden Men schentums. Der Tanz wird hier zum Symbol irdi scher Seligkeit, und in die meistersingerlich ertönenden Holzbläsersequenzen mischt sich lockend und aus- munternd der frische Klang des Horns. Unter brochen wird diese Fröhlichkeit im Trio, das eine stille, gesühlsschwere Abendstimmung vergegen wärtigt, wo der Sommersonnendruck endlich ge wichen ist und das Erfühl nach ruhig gemüßigter Aussprache sich sehnt. Beethovens C-Moll-Sinfonie, über die sich wieder holt ausftihrlich zu äuhern dein Chronisten angesichts der späten Nachtstunde für heute erlassen bleiben mag, ergänzte das wahrhaft monumentale Pro gramm. Die Darbietung der beiden gewaltigen Werke erregte wahren Enthusiasmus und brachte Herrn Professor Arthur Nikisch und dem Orchester reiche Ehrungen ein. Ganz ausserordentlich wirkte wieder Beethovens Sinfonie, und geradezu frappant gestaltete der Dirigent lum beispielsweise nur eins hervor,zuhebens den Uebergang aus dem Scherzo ins Finale als ein Meisterstück musikalischer Agogik, in aller Schönheit auch das Finale mit den energischen Akzenten. Mit grandioser Feierlichkeit und doch auch wunderbarer Gefiihlstiefe zog die Bructnersche Achte am Hörer vorüber, deren Vorführung eine Kunsttat bedeutete. Mit Ausnahme der Haüptteile des Scherzos gehen ihre Sähe sämtlich in breit und ernst gehaltenen Metren dahin, was eventuell eine ge wisse Schwierigkeit für die Aufführung bedeutet. Aber der einstige Brucknerschüler Arthur Nikisch wusste ihr siegreich zu begegnen mittels Verteilung von Licht und Schatten und bald sich ganz allmählich steigernder oder auch nach und nach einhaltenoer Bewegung. Von tiefstem und innerlichstem Eindruck war das Adagio, von gewaltigstem der an Richard Wagners hehre Walhallklünge mahnende Schluss. Angesichts der allgemeinen und begeisterten Zustimmung, die Werk und Aufführung fanden, sei der Vorschlag hier wiederholt, im Lause eines Winters einmal sämt liche neun Sinfonien Bruckners nebst dem die neunte abschliessenden De veum im Eewandhause darzu zubieten. Lugen Legnitr. * * Aus der Theaterchronik. Das König!. Schau spielhaus in Berlin hat Lothar Schmidts Lustspiel „Die Venus mit dem Papagei" soeben zur Aufführung angenommen und bereitet das Werk als nächste Novität vor. * Das Besichtigungsamt des Allgemeinen Studentenausschusses der Universität Leipzig veranstaltet Freitag, den 16. Januar, eine Besichtigung des „Bibliographischen Institut s". Alles Nähere aus den Anschlägen an den schwarzen Brettern. * Professor Freiherr von Soden tödlich ver unglückt. Wie uns ein eigener Drahtbericht aus Berlin meldet, hat sich dort am Donnerstag auf der Untergrundbahn ein schwerer Unfall ereignet, dem einer der bekanntesten Geistlichen Berlins, der erste Pfarrer an der Jerusalem-Kirche und ordentlicher Honorarprofessor an der Universität Berlin, Freiherr v. Soden, zum Opfer gefallen ist. Er wollte auf dem Untergrundbahnhof Dahlem auf einen fahren den Zug aufspringen, kam aber zu Fall, geriet zwischen die Puffer und wurde sofort ge tötet. Freiherr von Soden stand im 63. Lebens jahre und war seit dem Jahre 1887 Pfarrer an der Jerusalem-Kirche. Seit dem Jahre 1889 war er Professor der Theologie an der Universität Berlin, wo er sich besonders durch seine Forschungen über das Neue Testament einen Namen gemacht hat. * Korfs geht nicht an da» Metropoltheater. Die Verhandlungen Zwischen Arnold Korff und dem Berliner Metropoltheater haben sich zerschlagen. Korff wird im März an der Neuen Wiener Bühne ein Gastspiel eröffnen und in der nerven Komödie von Auernheimer und Feld „Das dumme Glück" spielen. Dann gedenkt er an einer englischen Bühne tätig zu sein. * Karl Eeyner vom Kleinen Theater in Berlin wurde vom Direktor Monti für die neue Operette „Jung Deutschland" von Leo Fall, die Anfang Februar in Szene geht, engagiert. * Frank Wedekind ist in Berlin eingetroffen, um im Lessing-Theater die Proben zu seiner Tra gödie „ Limson " zu leiten. In der Premiere des Stückes werden u. a. Tilla Durieux und Friedrich Kaystler tätig sein. * Michael Dengg s. Michael Dengg, der bekannte Darsteller oberbayerischer Bauerntypen und mehrerer Anzengruberrolle», der Direktor der Tegern- seer Truppe, ist gestern abend in München, kaum 50 Jahre alt, gcstorben Er war früher Haus knecht, dann Besitzer einer Bauernökonomie, die er sich durch Komödienspiel erwarb Es hat die Bauernkomödie zu tümtlerffcher Geltung gebracht und viel getan für die Neubelebung des Volksstückes. * Untersuchungen über den Batteriengehalt des Schulstaubs. Unter den Aerzten, die sich besonders mit der Schulhygiene befassen, herrschte vielfach die Ansicht vor, daß der in den Klassenzimmern und Korridoren der Schulen sich ansammelude Staub einen äußerst starken Bakteriengehalt aufweise. Dr. H. Peters vom Bakteriologischen Institut in Brünn hat jedoch vor einiger Zeit eingehende Untersuchun gen über den „Lchulstaub" vorgenommen, die die bis herige Ansicht in vielen Punkten abzuändern zwingen. Der Forscher ließ je in einem alten und in einem neuen Schulgebäude Staub aus einem Klassenzimmer und aus dem Turnsaale vom Fußboden aufsammeln. Bei der Untersuchung des Staubes auf Menge und Art des Bakteriengehalts trat zunächst die auf fallende Erscheinung zutage, daß der Staub nur in geringem Umfange Keime enthielt. Dies war um so verwunderlicher, als die Staubproben bei regneri schem, schmutzigem Wetter entnommen wurden und die Räume vorher weder besonders gereinigt noch ge lüftet waren. Keine Erklärung lieferten die Unter suchungen für die merkwürdige Tatsache, daß gerade im Staub in der alten Schule sich viel weniger Bak terien vorfanden als in der neuen. Die meisten Bak terien enthielt der Staub auf den Bänken, der Fuß bodenstaub wies annähernd den gleichen Gehalt auf, der geringste Gehalt war im Kathedcrstaub zu kon statieren. Die Proben aus dem Turnsaal ließen auch weniger Keime erkennen als die Proben aus den Klassenräumen. Vor allem wichtig ist die Tatsache, daß Dr. Peters auf Grund seiner Untersuchungen alle im Schulstaub enthaltenen Bakterien ihrer Art nach unbedenklich für ungefährlich erklären zu können glaubt. Es können daher in älteren Schulen bei ge nügender Lüftung und Reinigung dieselben gesunden Verhältnisse gescl-affen werden wie in neuen Schul gebäuden. * Heimatschutz bei den alten Römern. Der Hei matschuß ist keineswegs erst ein geistiges Produkt der neueren Zeit, sondern er ist bereits bei den alten Römern durch Verordnungen und gesetzliche Bestimmungen festgelegt worden. So finden wir ein Eoikt vom Jahre 222 nach Christo, das sich gegen den spckulationsweisen Abbruch von Gebäuden wendet und der Verschleppung wertvoller Baustoffe entgegen tritt. Eine Verfügung des Kaisers Julianus vom Jahre 363, die an den Statthalter von Afrika gerichtet ist, verbietet die Ver schleppung von Säulen und Statuen. Straf androhungen sind mit dem letzterwähnten Erlaße nicht verbunden. Sie erscheinen im S. C. Acilianum unter Hadrian von 122, welches das Verbot aus sprach, derartige Zierstücke der Häuser gesondert von diesen zu legieren oder entgeltlich zu veräußern. Unter Konstantin dem Großen wird unter An drohung der Strafe der Enteignung „das allgemeine Verbot erlassen, die in einer Stadt befindlichen monumentalen Zierstllcke nach einer anderen Stadt ober auf ein Landgut zu versetzen". Verwandten Inhalts mit den für private Bauten erwähnten Erlassen ist eine vom Kaffer Theodorus am 1. Januar 398 in Mailand gegebene und an den Präfekten der Provinz ge richtete Verfügung. Eine weitere Gruppe baupolizei licher Vorschriften wird durch die Absicht, die Wieder herstellung verfallener Gebäude zu fördern, gekenn zeichnet. Aus solchen Bestrebungen gingen zunächst wieder ortsstaturische Ordnungen, nämlich ein Läictum Vespusuivi hervor, bann ein Läietum Ilackriani, welches sich auf das ganze Reich erstreckte und Grund und Boden eines verfallenen Gebäudes der Inbesitznahme desjenigen freigab, der darauf ein neues Gebäude errichtete. Durch Zu- weiiung von Geldmitteln ermächtigt im Jahre 395 zu positivem Vorgehen im Intereße der baulichen und somit schönheitlichen Erhaltung öffentlicher Bauten den Eusebius eine Verfügung der Kaiser Arcadius und H o n o r i u s. Der Abbruch von Gebäuden und das Verschleppen von wertvollen Baugegenständen soll nicht allein der Ordnung und des Ansehens der zerstörten oder beraub ten Gebäude wegen vermieden werben, sondern es sprechen Rücksichten auf die Erhaltung der schön- heittichen Erscheinung der Städte im ganzen unver kennbar mit. Und diese Betonung von Rücksichten und Vorkehrungen zur Erhaltung schöner Bilder fällt zweifellos in das Gebiet des Heimatschutzes. Aus dem vorstehenden geht iweifellos hervor, daß die Grundziiqe der Denkmalpflege und des Heimatschußes den Alten nicht fremd waren. Die Art. wie sich das Empfinden geltend machte, ist selbstverständlich, wie die „Denkmalpflege" ausführt, durch die Eigenart der Verhättniße bedingt, welche seine Aeußerung veranlaßt haben. Die Aufzählung einschlägiger Er lasse ließe sich, wie oben bemerkt, erweitern, ohne daß dadurch viel Neues gewonnen würde. Ein Franentheater. Kürzlich ist, wie uns aus London geschrieben wird, daselbst unter dem Na men „Cooperative Feminist Theatre" von Lady For des Robertson ein neues Theater gegründet worben, bas schon jetzt viel von sich reden macht. Lady Ro bertsons bedeutende Erfahrungen auf dem Gebiete des Theaterwesens, die sie als Besitzerin des Drury Lane Theaters hat sammeln können, berechtigen dazu, der Neugründung einen vollen Erfolg voraus- Zusagen. Das Frauentheater ist nämlich mit der ausgesprochenen Absicht gegründet worden, in künst lerisch vollendeter Form von der Bühne herab auf bas Volk erzieherisch einzuwirken und ihm durch die Aufführung dramatischer Werke, die den Kampf der Frau für ihre Rechte und gegen ihre Unterdrückung behandeln, eine leichtere Stellungnahme zu all den Problemen, die jetzt die Frauenwelt bewegen, zu ermöglichen. Zu diesem Zweck hat Lady Forbes Robertson eine Liga aus männlichen und weib lichen Schauspielern gebildet, die es sich zum Ziel gesetzt hat, von der Bühne des neuen Frauentheaters herab zu wirken, damit den Frauen endlich die Rechte zuteil werden, die ihnen eigentlich auch ohne Kampf zustehcn sollten. Nicht nur für das Stimm recht wird hier gekämpft, sondern gegen die Unter drückung der Frauenrechte, wie dies in England der Fall ist, wird hier zu Felde gezogen, und Lady For bes Robertson hofft, daß. sie auf diesem Wege mehr erreichen wird, als die Suffragetten mit ihrer mili tärischen Streitweise. Den Zuschauern wirb in erster Linie ein hoher künstlerischer Genuß geboten, denn es haben sich bereits 790 Mitglieder zu der Liga ge meldet, so daß die Zahl der besten Spieler auszu suchen nicht gerade schwer fallen wird. Das Court Theater, das zu diesem Zwecke gepachtet worden ist, bietet Raum genug, um eine genügende Anzahl von Zuschauern in dem Theater unterzubringen. Die Preffe sind volkstümlich gehalten, damit jeder hinein gehen kann, und auf diese Weise zur Befreiung der englischen Frauen von der Unterdrückung beitragen kann. Auch sind besonders Schülerinnen-Nachmittage geplant, die der Heranwachsenden Jugend das Bild der Frau in ihrem Kampfe zeigen kann. Wie uns ge schrieben wird, hat die Königin non England das regste Interesse an dem Unternehmen der Lady For bes Robertson und ihren Besuch mit ihren Hofdamen und dem Gefolge bereits zugesagt, damit wäre aller dings ein Erfolg zu verzeichnen, der den englischen Frauen vielleicht ganz ungeahnte Wege bahnt. Von London aus wird sich ein Teil der Liga in die eng lischen Provinzen begeben, um auch hier durch die Bühne erzieherisch zu wirken Geplant sind die Auf führungen von Werken, die natürlich dem Zwecke dienstbar sind, wenn sie auch nicht durchaus aus der Feder englischer Autoren stammen. Vie künstlerische Seöeutuns von /llsreü Lichtwark. Der Tod eines Mannes wie Lichtwark bedeutet für die Kunstgeschichte einen Verlust, größer aber ist dieser Verlust für die Allgemeinheit. Ein Führer im Reiche der Kunstgeschichte ist mit ihm geschieden; allein Führer der Kunstgeschichte gibt es viele ihm gleich große. Was mehr besagt: Der Führer zur Kunst uno vor allem zur Kunst unserer Tage ist mit ihm dahingegangen. Die Hamburger werden wohl in ihm den unersetz lichen Museumsleiter betrauern, dem es gegeben war, in der nüchternen Kausmannsstadt Ham burg Liebe zur Kunst zu wecken, der aus einem Provinzialmuseum sein Museum zur Sehenswürdigkeit von Wert hob. Sie werden ihm danken, daß er die Meister der Vergangen heit, innerhalb Hamburgs Mauern tätig, liebe voll ans Licht gezogen und manchmal über Ge bühr mit dem Gewicht seiner Persönlichkeit hervor gehoben hat. Jedenfalls ist der Name eines Meisters Franke, eines Julius Oldack, eines PH. Otto Runge erst durch ihn klangvoll und achtunggebietend geworden. Aber wir, die wir nicht seine Schüler zur Kunst- geschichre gewesen, wir. denen er mehr gegeben, als reine Wissenschaft der Allgemeinheit zu schenken ver mag, wir wollen ihm in Dankbarkeit die Hellen „Packträgeraugen", wie Böcklin sagte, bewahren, die freudig jeden künstlerischen Eindruck fassen, festhalten, um in die nüchterne Winkligkeit des Alltags zu leuchten. Er war ja einer der wenigen Kunstgelehrten, die über dem Forschen in Urkunden die Kunstwerke nicht vergessen und so betrachten, bis sie zu ihm redeten und ihn führten, auch das Leben künstlerisch zu sehen. Was er dem Alltag auf diese Weise mit seinen Sinnesorganen abgelauscht, das hat er in leichtver- ständlicher Sprache niedergelegt, das hat er in Vor trägen vor großen und kleinen Kindern Allgemein gut werden lassen. Und wenn wir in dieser Beziehung dem „Kunst wart" Dank schulden, dem „Kunstwart", wo ein ganzer Stab tätiger Kunstfreunde wirkt, Lichtwark allein hat die gleiche Kulturarbeit im Dienste der Schönheit verrichtet. So man an der Bahre eines Großen prophezeien darf: Lichtwarks Name wird neben dem Richard Muthars aus der unendlichen Schar der Kunstschreiber unserer Tage in der Zukunft noch Geltung haben. Zu früh, mit einundsechzig Jahren ist er dahin gegangen, zu früh für alle, die ihn als Menschen liebten und schätzten; allein das frohe Trosteswort darf man aussprechen: Sein Werk hat er vollendet. 2n seinen populären Schriften „Matartbukett und Blumenstrauß", Palastfenster und Flügeltür", „Uebungen in der Betrachtung von Kunstwerken" hat er Tausenden den Weg zur Kunst gewiesen, und auf dem von ihm erschlossenen Psade werden in Zukunft noch Tausende, aber Tausende ms Land der Schönheit pilgern. vr. 11. 6. Leipzig, 16. Januar. ' XII. Gewandhauskonzert. Zwei groste Sin foniker nahmen das Progriunm des gestrigen Abends für sich allein in Anspruch, und Romantik und Klassik kamen zu gleichem Recht. Anton Bruckners achte Sinfonie in C-Moll entsprang romantischer Tendenz. Schon der erste Satz gilt den Beweis hierfür. Alles darin befindet sich in starkem Aufftreben und gewal- ligem Zusammenraffen der Kräfte befangen und be schäftigt. Das erste Thema beherrscht das Ganze und läßt einen Scitengedanken eben nur nebenbei auf kommen als leichte Ergänzung seiner selbst. Das breit dohinwallende „Alla breve" trägt nicht wenig dazu bei, Bruckners Tonsprache besonders groß und eindringlich zu gestalten. Die Bedeutung dieses Ein- gaugssatzes wird vielleicht noch überholt von An lage und Idee des Finales, das den Inhalt der drei vorangegangenon Säße zusammenfaßt, in gran dioser Kontrapunktik mit dien mannigfaltig ge arteten Themen spielt und sie, mit energischer Faust zugreisend, aufeinandertürmt. Aber es ist das Spiel eines musikalischen Zyklopen, dessen Kräfte ins Ungcmessene zu gehen scheinon, die Arbeit eines Künstlers, für den die Technik nur das Mittel ist zur Darstellung. Inmitten dieser zwei Sätze stehen zwei andere, die unter sich wieder Zusammenhängen Vas slerbrnar Dorf. II Roman von Ewald Gerhard Seeliger. «Nachdruck verboten) Wie immer am Tage vor Himmelfahrt' schaute auch heute die Nachmittagssoune um 1 Uhr in das Magistratsbureau der Königlichen Kreisstadt Breugnitz an der Oder, und da es der 19. Mai war, spiegelte sie sich mit beson derer Freundlichkeit auf dem kahlen (Scheitel des Magistratssekretärs Emil Drenckhan, der mit nickendem Kopfe auf seinem Stuhle säst und schlief. Ihm gegenüber am Doppelschreibpult stand sein Assistent Mar Hanschke, ein junger Mann von 23 Jahren, der in diesem Augenblicke ge nau so pflichtgetreu war wie sein Vorgesetzter. Mar Hanschke war ein echtes Kind seiner Vaterstadt und hatte eine kecke Nase, einen flot ten Schnurrbart und lustige Augen. Da er eine gute Handschrift sein eigen nannte und sein längst verstorbener Vater der dienstälteste Polizeisergeant der Stadt gewesen war, hatte man den hoffnungsvollen Sohn nach Absolvie rung der Bürgerschule in das Polizeibureau als Schreiber genommen, von wo er sich unter dem Protektorat des Sekretärs in das Magistrats bureau hinaufgearbcitet hatte. Inzwischen hatte er Zeit und Muste gefunden, als erster Tenor den Mannergesangverein zu verstärken, ausser dem gehörte er der Radfahrervereinigung Con cordia an und trug sich augenblicklich sogar mit dem für einen Binnenländer immerhin sonder baren Gedanken, einen Ruderklub zu gründen. Andere Sorgen hatte er augenblicklich nicht. Cs fiel ihm auch gar nicht ein, wider den «Ltachel der vaterländischen Vorsehung zu löken, die ihn bereits zum dereinstigen Nachfolger seines Vor gesetzten bestimmt hatte, vorausgesetzt, das; er iich bis dahin entschließen konnte, Cmilie D.renck- han, dieses Vorgesetzten mannbare Tochter, als Cheweib heimzuführcn. Max Hanschke war trotz seiner jungen Jahre ein Politikus und sagte vorerst weder ja noch nein. Cr ließ die Sache in der Schwebe, spielte lebe Woche einmal mit Vater und Tochter unter Assitzenz seiner voraussichtlichen Schwieger mutter einen Danerskat von vier Stunden und freute sich diebisch, wenn er gewann. Denn cr war im letzten Grunde eine gemütvolle Natur und ganz und gar kein Spaßverderber, und schliesslich war Cmilie ein durchaus ansehnliches Mädchen, wenn sie auch in spätestens vier Jah ren aus dem Schneider heraus sein mußte. Augenblicklich beschäftigte sich Max Hanschke damit, über die Akten uachzudenken, die ihm sein Vorgesetzter am Mittag durch die zwischen ihnen aufgestapeltcn Bücher wortlos zugeschoben hatte. In dieser Zeit der Nachmittagsruhe hätte Max Hanschke nicht gewagt, eine Feder anzu- rührcn. Der Schlaf seines Vorgesetzten war ihm viel zu heilig. Außerdem fühlte er sich verpflichtet, scharf ans alle Geräusche zu achten, die jich auf dem Korridor meldeten. Also blätterte er sehr dislrct in den Akten, ohne daß auch nur ein Platt knisterte. Obenauf lag die Anstellungsurinnde für die Lehrerin Margarete Dobisch, die an die Höhere Städtische Mädchenschule berufen worden war. Mar Hanschke war vorwitzig genug, sich sofort eine altere spindeldürre Dame vorzustellen. Da aber ersah er das Geburtsjahr der Lehrerin. Einundzwanzig! dachte er und machte eine hochmütige Miene. Also ein Küken, das eben aus dem Seminar geschlüpft ist. Sodann kam ein langer Bericht über die neuen Kasernen. Die Militärverwaltung zeigte nämlich nicht übel Lust, eins der neuzubildenden Regimenter nach Breugnitz zu legen, falls sich' der Magistrat dazu entschließen könnte, die da für notwendigen Ländereien und Baulichkeiten gegen eine entsprechende Miete herzugebcn. Darunter lag ein kurzes aber scharfes Monitum der Kämmerei an den städtischen Oberförster Seipel, der erst vor einem Jahre über den großen hinter dem Dorfe Gramkau gelegenen Sckadtwald, der die Haupteinuahmequelle des Magistrats bildete, gesetzt worden war und dessen Jahresabrechnung als zu wenig spezialisiert ge rügt wurde. So ganz uninteressant aber war die Arbeit durchaus nicht auf dem Magistratsburcau. Und wie schon öfters kam auch jetzt Max Hanschke das stolze Gefühl, daß er seine liebe Vaterstadt ein wenig mit regieren durfte. Aber trotzdem rührte er die Feder nicht an. Morgen am HimmclfahrtStage war kein Dienst, es mußte auch Arbeit für übermorgen übrig bleiben. Plötzlich spitzte er die Ohren. Aus dem Kor ridor ertönten kurze, harte Schritte. Das war der zweite Bürgermeister, der aus seinem Zim mer kam und direkt auf das Sekretariat zu steuerte. Max Hanschke trat, einer langjährigen Uebung gemäß, seinem verehrten Vorgesetzten mit solcher Geschicklichkeit und Schnelligkeit auf die Hühneraugen, daß er noch reichlich Zeit sand, wie ein Gummiball in die Höhe zu schnel len und sich in Positur zu setzen. Als er Max- Hanschke einen dankbaren Blick für die Be mühung zuwarf, schoß auch schon der zweite Bürgermeister herein. Cr war früher Artil- lericmajor gewesen und hatte die Angewohnheit, alle Leute, die ihm nicht übergeordnet waren, auzuschnauzcn, selbst wenn cr die freundlichsten Absichten hatte. „Hier!" rief er und Ivars die Kladde eines Briefes ans Cmil TrcuckhauS Schreibtisch. „So fort abschrciben und umgehend an den Adressaten befördern. Herr Hanschke wird den Weg machen." „Herr Bürgermeister!" erwiderte der Sekre tär pikiert, wobei er sich räuspernd in die Brust warf. „Ich möchte mit allem schuldigen Respekt bemerken, daß Herr Hanschke kein Polizeibote ist, sondern ein Bureaubeamter." „Weist ich!" fchnauzte der Bürgermeister und klopfte ihm militärisch-leutselig aus die Schul ter. „Weist ich, mein lieber Drenckhan. Aber da draußen auf dem Pcukertschen Hose ist ein Hund, der jeden Menschen in Uniform anfällt. Cs wird auf die Dauer zu teuer, jeden Bries da hinaus mit einer neuen Polizistennniform zu bezahlen. Und verklagen können wir die Leute auch nicht, weil wir sie in guter Laune erhalten müssen. Auch soll die Sache vorerst mehr privatim behandelt werden. Verstanden! Spätestens um sechs Uhr must der Brief in den Händen des Adressaten sein. Denn heute ckbend ist da draußen Gemeindeversammlung. Sic wissen ja, worum es sich handelt." Und draußen war cr, denn er hatte, da er die linke Hand des Ersten Bürgermeisters war, immer bedeutende Eile. Emil Drenckhan studierte den Brief, und Max Hanschke stand hinter ihm und las mit. Das Schreiben enthielt im wesentlichen eine Ein ladung an Herrn Karl Peukcrt, zwecks einer Be sprechung über die Eingemeindung des Dorfes Gramkau auf das Breuguitzcr Rathaus zu kommen. Unter den zehn Jahren der tatkräftigen Re gierung des Ersten Bürgermeisters Bielau hatte die Stadt einen schnellen und ungeahnten Auf schwung genommen. Ihre Vorstädte hatten sich bis an die Grenze des Weichbildes vorgeschoben. Wie drohende Austeuforts umschlossen sie gür telförmig die zahlreichen Fabriken. Zu dem ge planten Kaseruenbau war innerhalb der Stadt kein geeignetes Terrain mehr aufzutreiben, und da das Dorf Gramtau unmittelbar in die Vor stadt überging, die anderen Nachbardörfer aber viel weiter im Felde lagen, war die Einbe ziehung dieser Landgemeinde in den Stadtbezirk der einfachste Ausweg. Denn der Magistrat be saß schon von altersher das Gramkauer Domi nium. Und gerade auf diesem Areal sollten die zwölf Kompauietaserueu für bas neue Grcua- dicrregiment erstehen. „Wenn wir nur da nicht ins Fettnäpfchen treten!" meinte Ennl Drenckhan und blickte da bei sehr kritisch zu seinem Assistenten auf. „Diese dickköpfigen Bauern werden sich bedanken, Städter zu werden. Und der Karl Peukert, ohne den überhaupt nichts zu machen ist, ist der dicktövsigste von allen. Ich bin doch wirk lich neugierig, ob unser Bürgermeister den klein kriegt." „Cr wird schon!" ries Max Hanschke sicgcS- gewist und tauchte die Feder ins Tintensaß. „Er bringt alles fertig!" „Und kommen Sie mir heule abend nicht zu spät zum Skat," sagte der Maglstratssckrctar freundlich, „meine Frau und meine Tochter wer den sich sicher sehr freuen, wenn Sie schon zum Abendessen antreten." „Ich will es versuchen!" dankte Max Hanschke für die freundliche Einladung und brachte flüssiger Feder das Schreiben ins Reine. (Fortsetzung in der Abendausgabe.)