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70 Was ist christliche Dichtung? italienischen Dichtern gegangen. Aber gelungen sei dieses Streben und Suchen nach einer vollständigen christlichen Lebens-, Welt- und Natur- Symbolik nur für die Malerei, niemals zur allgemeinen Befriedigung für die Poesie; schon nicht in Dante, noch weniger in Tasso und Milton. Der andere Weg geht anstatt von einem allumfassenden christlichen Welt gedicht vom einzelnen aus, „wie es gerade gegeben ist, von dem Leben selbst, von der sagenhaften Geschichte der einzelnen Legende, selbst von Fragmenten der alten heidnischen Mythologie, falls sie eine höhere Bedeutung und geistige Umwandlung zulassen". Nicht von oben wird hier die Symbolik im ganzen und mit einem Male in die Erscheinung hingetragen, „sondern das Leben selber von jedem einzelnen Anklange aus, hinaufgeführt zur symbolischen Schönheit". Es ist Calderon, mit dem diese Richtung einsetzt. Die beiden Wege entsprechen sich wie deduktive und induktive Me thode. Eine jede mag zur rechten Zeit ihre Bedeutung haben. Daß die letztere die zurzeit unserem Empfinden und Bedürfnis sowie dem gegenwärtigen Stand unserer gesamten Erkenntnisweise angemessenste ist, dürfte kaum einem Zweifel unterliegen. Sie wird vor allem bedingt durch die realistische Gestaltung unserer Dichtung. Dieser Realis mus ist keineswegs durch die neuromantischen Stilreaktionen überwunden. Er steht unerschüttert, und seine Überwindung wird ebensowenig möglich sein, als es je gelingen könnte, auf die großen technischen Errungen schaften der Zeit im Interesse etwa einer größeren Innerlichkeit zu ver zichten. Diese Errungenschaften erscheinen uns nur hinderlich, solange wir sie geistig nicht bewältigen. Und ein solches Versagen unserer Kraft gegenüber der stets konkret und empirisch beglaubigten Wahrheit des Weltgeschehens wie Einzelschicksales läßt uns auch vom christlichen Stand punkt aus das Heil der Dichtkunst zunächst noch in jenem nur formal- idealistischen Tun erblicken, das den Dingen ihre Schärfe, Kraft und unmittelbare Evidenz raubt. Auf einen solchen Idealismus äußerlicher Beschönigung kann jedoch niemand leichter Verzicht leisten als gerade der christliche Dichter. Alle Wahrheit ist für ihn nur eine. Wer sein Auge auf sie eingestellt hat, wird sie überall entdecken. Mit christ lichen Augen angesehen, findet man in allen Geschehnissen immer eine positive oder negative Bestätigung christlicher Lebensweisheit. Daher mag der christliche Dichter unerschrocken an das Leben und die blanke Wirklichkeit herantreten, er wird niemals den niederen Gewalten darin Versalien können. Kein verzweifelnder Pessimismus wird ihn auf die