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HohANstem-Ernstthüler TW'MMLiUM Nr. 267 Donnerstag, den 17. Nov mber 1927 2. B-uage Der Dichter unserer Jugend Wilhelm Hauff Zu seinem 1VÜ. Todestage am 18. November 1927 Bon Friedrich Märker Wilhelm Hauffs Vater, der bereits als Siebenunddreißigjühriger starb, zeichnete sich wie seine Vorfahren durch selbständigen Freimut und Charakterfestigkeit aus; seine Mutter war phantasievoll und hatte Lust am Fabulieren. Wilhelm Hauff (geb. am 29. November 1802 zu Stuttgart) genoß, wie er in den Me moiren des Satans erzählt, eine gute Er ziehung; er hatte, was man einen harten Kopf nennt, das heißt, er ging lieber aufs Feld, hörte lieber die Vögel singen, als daß er sich oben in der Dachkammer, die man zum Musensitz des künftigen Pastors eingerichtet hatte, mit seinen Lehrbüchern abmarterte. Dagegen hatte er zu Nitter- und Näuberromanen eine leideiischaft- kiche Neigung. Einmal sollte er einen Aufsatz über den größten Mann Deutschlands schreiben; seine Mitschüler wählten sich jo ärmliche obskure Helden wie Hermann, Karl den Großen und Luther; Hauff aber erklärte den Isländer Thio- dolf, einen Romanhelden, der so stark ist, daß er einem Pferd nur ein wenig auf die Stirne zu klopfen braucht, um es tot umfallen zu lassen, für den größten Deutschen. Diese Verwechslung von Geschichte und Geschichten verschaffte ihm statt erhoffter Triumphe viel Spott und vier Tage Karzer. Da Hauff gesellschaftliche Talente und eine meist heitere Laune besaß, liebenswürdig ohne Hochmut, anpassungsfähig und witzig war, fand er viele Freunde; und wurde, zumal er eine triebkräftige Neigung „zum Leichtsinn, zum Trunk und zum Spiel" hatte, in das gesellige Leben stärker verstrickt als der Vertiefung seines Wesens und seinem Körper förderlich war. Jedoch lag hinter Hauffs heilerer und ge selliger Genußfreude eine verdrängte Neigung zum stillen Leben und zum Ausspiiren des Wesenhaften unter den Masken. Diese beiden gegensätzlichen Anlagen ver dichtete er in den Memoiren des Satan zu dem lebensgewandten, modisch-eleganten und witzigen Herrn von Slatas und dem melancholischen Ewigen Juden, der den Leuten Taktlosigkeiten, bezw. die Wahrheit ins Gesicht sagt. „Es ist gut, daß die Seele, sonst immer nach außen gerichtet, auch einmal einkchrt im eigenen Gasthof ihrer Brust..." Solch eine, bei Hauff allzu seltene Einkehr zeigen die Phantasien im Bremer Ratskeller. Während Hauff sonst meistens Gesehenes und Gelesenes auf mehr oder minder eigene Manier wiedcrgibt, schafft er hier aus sich selbst heraus. Als Dichter hatte Hauff den Vorzug einer leichten Mitteilungsfähigleit und einer robusten Stoffbewältigungsgabe; er schuf spielend und schrieb sehr lebendig, konnte alles, was ihm in den Weg lief, verwerten und sich dem Zeitge schmack anpassen — ohne sich kritiklos an die Mode zu verlieren. Er hatte eine lebhafte Emp fänglichkeit für äußere Eindrücke, besonders für Farben und Stimmungen, war aufnahmefähig auch für das Gute in den damals erfolgreichen Büchern (Scotts und E. T. A. Hoffmanns vor allem). Man vermißt bei ihm die tiefere Psycho logie, die wohldurchdachte Komposition und einen inneren Zusammenhang. Die Tätigkeit des Ver standes beschränkt sich auf die Jntrigenbildung und auf die Beobachtung, die allerdings nicht am Sichtbaren haften bleibt, sondern sich immer mehr ins Kultur- und Gesellschaftskritische ver tieft. Kleine satirische Meisterwerke gab Hauff in seinen Schilderungen ästhetischer Tees und eines Besuches in Frankfurt (Memoiren des Catan). Diese Abschnitte bestärken die Vermutung, daß Hauffs eigentliche Berufung in der künstlerisch gestalteten Gesellschaftskritik lag. Durch einen allzu frühen Tod wurde ihm die Vollendung ver sagt. Ein Nervenfieber endete das Leben des Fünfundzwanzigjährigen am 18. November 1827. Seine Werke sind heute noch beinahe allge mein bekannt. Die Geschichte vom Kalif Storch, Der Zwerg Nase, Das kalte Herz — wem steigen nicht Stunden der Kind heit mit diesen Titeln auf! Wer studiert nichr als Zwölfjähriger mit Andacht den „Lichten- stein"! SMkchM'sMS Von Heinrich Peters-Göttingen Düster und dämmerig ist der November-Tag, tief hängen die grauen Wolken, und melancholisch rieselt ein feiner Regen herab. Längst hat der Herbst die letzten welken Blätter von den Bäu men gerissen und der Sommer ist nur ein ver klungenes Märchen. Die Regentropfen schlagen ans Fenster, als pochten sie um Einlaß, durch die menschenleeren Gassen pfeift der Wind eine ferne, klagende Melodie. Schon neigt sich der kurze Tag seinem Abend zu. Die Dämmerung steckt ihr graues Gesicht durchs Fenster und ihr seltsamer Blick webt weiche, graue Fäden, die sie um alle Ecken und Winkel hängt. Immer dichter wird das Gewebe: erst hat es den Ofen umsponnen, dann breitet es ich über Tisch, Stühle und Bücher, und nun sind cur noch die beiden Fenster übrig, die mit ihrem blassen, helleren Schein wie zwei große, fragende Augen aussehen. Das ist die rechte Zeit zum Träumen. Die Hände sinken in den Schoß und die Gedanken flattern umher. War's nicht an einem solchen Tag, als sie den jungen sonnigen Dichter auf dem Stuttgarter Friedhof ins Grab senkten? Nun schläft er schon ein volles Jahr hundert unter dem Stein, den sie am Lichtenstein gebrochen und ihm zur Ehre auf sein Grab ge legt. Längst ist sein Leib zu Staub und Asche zerfallen. Was er aber sang und sann, das lebt! heute noch; heute noch so frisch, wie einst. In; dieser Dämmerstunde wird es doppelt lebendig.' Hörst du nicht, die Tür knarrt! Gestalten drängen sich herein, flüchtige Schatten. Sie nicken wie arte Bekannte, und die Seele grüßt sie mit der Erinnerung aus fernen Kindertagen. Eine hohe, gebieterische Gestalt führt den Zug. Um seine Schultern weht ein großer roter Man tel, sein Gesicht ist mit einer Larve verdeckt, nur oie dunklen Augen k itzen dich gar furchtbar an. Kennst du ihn noch, den schrecklichen Orbasan, oen Herrn der W^e? Erinnerst du dich noch jener Stunde, als ou dich mit glühenden Wangen zum ersten Male der Karawane angeschlossen, um mit ihr durch den Sand zu ziehen'? Sieh, Orbasan hat zwei Begleiter. Der eine ist eine gar putzige Gestalt: nein, diese Zwergensigur, viese langen Arme, dieser kurze Hals und dazu mitten im Gesicht diese unendlich lange, gewaltige Nase! Ein feiner Geruch weht um ihn, wie von zarten Kräutern und duftenden Gewürzen, und feine Augen blicken so wehmütig, als flehten sie dich um Erlösung an. Der andere sieht fast noch furchtbarer, als der Rotmantel aus. Groß und kräftig, totenblaß sein Gesicht, die Augen ge schlossen und mitten durch die Stirn steckt ihm ein riesiger Nagel. Weißt du noch, als du die sen Mann zum ersten Male auf seinem gespen stischen Schiffe trafest? Klingt dir das unheim liche Treiben der Nacht noch in den Ohren? Jst's dir nicht, als ob dir jetzt wieder, wie unter einem geheimnisvollen Zwange, die Augen zu fallen wollten? Nein, da kommen ja wahrhaftig zwei präch tige lebendige Tiere hereingehüpft: zwei Störche, zwei richtige Störche! Wie lang ist's her, seit du draußen wirklich einen gesehen hast? Der Storch gehört bald zu den Feen und Geistern, die aus der harten Wirklichkeit sich in das Märchen flüch ten müssen. Diese hier sind besondere Tiere, fast als ob sie menschlichen Verstand hätten. Unruhig Hüpfen sie hin und her, klappern mit dem langen Schnabel und verneigen sich gen Osten. Wie aus weiter, weiter Ferne, klingt ein leises „Mu! Mu!" an dein Ohr, als wären es richtige Kühe. Jetzt hüpft ein ausgelassener Affe herein. Er hat Menschenkleidung an, und benimmt sich so, als wäre er hier zu Hause. Er fetzt sich in den Ledersessel und legt die kurzen Beine auf den Tisch. .Plötzlich fährt er auf und klettert in grotesken Sprüngen an den Vücherbörten empor; bald schwingt er sich auf die Lampe, als wäre sie eine Schaukel. Warte, Geselle, ich will die die Halsbinde schon enger ziehen, damit du Vernunft annimmst! Im Augenblick wo die Hände den Heros der Grünwieseler Geselligkeit fassen wollen, ist aber im Nebel zerronnen. Die Tür knarrt unaufhörlich, noch lange ist der Zug noch nicht zu Ende. Jetzt stampft es ordent lich auf den Fußboden, und der grobe Gesell muß sich bücken, um nur hereinkommen zu können. Nein, einen solchen Riesen hab ich noch nicht ge sehen! Merkwürdig: gerade als er eintritt, hat sich draußen ein wilder Sturm erhoben, der um die Ecken pfeift und an die Scheiben pocht. Warum zuckt dein warmes Herz so ängstlich in der Brust, als griffe eine kalte Hand danach? Ler Holländer Michel weiß- cs wohl. Drohen! hält er seine mächtige Floßerstange in der eine, Hand; mit der anoeren rlimpert er mit den blai len Siibertalern in seiner Tasche. Da bekomm: er von hinten einen rechten Stoß gerade in du. Kniekehlen, daß er schwankt und in Rauch ver geht. Wo eben noch seine ungeheuren Stiefe. sich breit machten, steht nun ein kleines zierliche-. Männlein, mit einem großen spitzen Hut um schaut dich aus freundlichen klugen Augen u. Es ist als ob er einen Hauch von Schwarzwaco lüft und Schwarzwaldsonne mit sich brächu „Den groben Gesellen wollen wir schon hinnm befördern!" wispert er höhnisch, summt eine fei,. Melodie, ähnlich wie Tannenrauschen, und da Herz, das noch eben so kalt im Busen schlug, wir. wieder warm und hell. „Herr Schntzhauser, er zählet uns eine Geschichte!" — Der Kleine niac zwar, zieht aber dann seine hübsche, glasheiie Pfeife heraus und entzündet sie bedächtig. Große Rauchwolken ziehen durch die Stube, dichter und dichter, und wie sie verrinnen, ist auch der kleine freundliche Geselle mit ihnen verschwunden. Undeutlicher werden die Bilder und Gestu. ten; längst schon ist Nacht herniedergesunle,.. Hörst du das Rauschen des Meeres, wie es in dunkler Regcnnacht um die Klippen der Höhle von Steenfoll braust? Horche nicht' Es ist die Stimme des Bösen, die dich locken will. Imme wieder kommen neue Schatten. Der feine Gold schmied und der derbe Zirkelschmied wandern mi> ihrem Nänzel an dir vorbei, die greuliche Wir tin aus dem verrufenen Wirtshaus im Spessar. blickt dich tückisch an. Der Student trabt auf sei nem munteren Rosse und der Fuhrmann knallt mit der Peitsche; der Räuberhauptmann sieht sehr edel aus, und selbst die Gräfin beebrt Dämmerstunde mit ihrer Gegenwart. Vorbei! Nun wird es plötzlich Heller, drau ßen ist ein Stern aufgegangen. Ein junger Mann tritt ein, mit frischem, freundlichen Ge sicht. Sein Haar ist braun und reich, die Augen sind klar und blitzend, und in der Hand trägt er einen Zauberstab. Du ahnst, wer cs ist! Da erhebst du dich von deinem Sitz und grüßt ihn: er lächelt dir freundlich zu. Ein Kranz liegt auf seinem Haupte, ein echter, rechter, immergrüner, Dichterkranz. „Hab Dank, daß du mich besuch.' hast! Hab Dank für die vielen herrliche» Stun den der Kindheit, die du mir gegeben! Dank für allcs!" — Nun ist auch er im Dunkel vcrschwund«,. Wahrhaftig, es ist schon spät geworden. Das elektrische Licht flammt auf, nun ist es wieder die gewöhnliche Stube des Alltags. Aber noch schwebt ein Hauch von Märchendust durch den Raum, und die Uhr tickt behaglich hi» und her. als wenn sie dir ein altes, liebes Lied summen wollte von der stillen Wacht und der finsteren Mitternacht. Sei mir gegrüßt, du treuer Freund meiner Kindheit! Sei mir gegrüßt, Wilhelm Hauff! Neuland Von mücrcm lildmucrMmUchc» krorrewondcntc» Rio de Janeiro, 10. November Es ist noch nicht allzu lange her, daß Schiff um Schiff im Hafen von Rio des Janeiro einlief, die alle deutsche Auswanderer nach Brasilien brachten. Die Jnflationsjahre veranlaßten Zehntausende, der alten Heimat den Rücken zu kehren, und die Stabilisierung hatte erst recht eine neue Auswandercrmelle zur Folge. Die damals einsetzendc Rationalisierung machte un zählige Menschen brotlos, von denen sich ein großer Teil zur Auswanderung entschloß. Ihnen gesellten sich alle diejenigen hinzu, die erst da mals einsahen, daß ihr Vermögen zerronnen war, und keine Neigung verspürten, sich in Europa eine neue Existenz aufzubauen, sondern es lieber in der Fremde probieren wollten Das Sehnsuchtsland aller Enttäuschten, die Bereinigten Staaten von Nordamerika, hatte für die Einwanderung den numerus clausus (ge schlossene Zahl) eingeführt, so daß die Hochflut oer Auswanderungslustigen sich naturgemäß Brasilien zuwandtc. Wenn die Einwanderung jetzt, da in Deutschland wieder geordnete Ver hältnisse Platz gegriffen haben, auch beträchtlich nachgelassen hat, so kommen doch immer noch ge nug Landsleute hierher, so daß es nötig erscheint, einmal Grundsätzliches über die Lebensbediu- aungen und die 'Arbeitsmöglichkeiten zu sagen, Vie Deutsche hier vorfinde». Zunächst eine unbedingte Warnung, auf gut Glück herüber zu kommen. Es ist ein trauriges Schauspiel, wenn man jeden Tag mit nnsehe» muß, wie junge Leute von einem Betriebe zuu anderen laufen, und um Arbeit bitten. So und so viele Ehefs stellen überhaupt keine Deutschen ein. Werden sie angenommen, so wird von ihnen stbier Unmögliches verlangt. Arbeitszeiten von 12 bis 11 Stunden sind die Regel, die Gehälter liege» fast immer unter den Du'rchschuittslöhnen, vie in Deutschland für die gleiche Arbeit gezahlt werden. Dabei ist das Leben, wenigstens in den kiüdten, nicht etwa billiger, sondern zum min ¬ desten im Anfang größere Ausgaben nötig sein. Daraus ergibt sich, daß es keine Möglichkeit gibt, Geld zurückzulegen, so daß der landfremde Aus wanderer, wenn er arbeitslos oder krank wird, fast immer in die bitterste Notlage gerät. Und krank wird er nach Verlauf weniger Atonale fast immer, da die meisten Europäer das hiesige Klima nicht vertragen und entweder Malaria oder Ruhr bekommen oder sich sonst ein Magen- leiden zuziehen, da sie bei der unerträglichen Hitze ständig kalte Getränke — Eiswasser — zu sich nehmen und dadurch die Widerstandskraft verlieren. Soziale Einrichtungen existieren kaum, so daß jeder auf sich allein angewiesen ist. Bei den paar Glücklichen, die bei deutschen Fir men a»gekommen sind, mag es besser sein, aber es gibt verhältnismäßig wenige Landsleute hier, die zur Selbständigkeit gelangt sind. Oberstes Gebot für alle Auswanderer ist also: verschafft euch von der Heimat aus eine feste Stellung, holt zuverlässige Referenzen über die betreffende Firma ein und verlaßt euch nie auf ünen Vertrag, der nicht schriftlich bestätigt mor sen ist, denn alle mündlichen Abmachungen sind ungültig! Nun beabsichtigen viele Auswanderer ja aber nicht, hier eine Stellung anzunehmen, sondern sie wollen sich selbständig machen. An die Eröff nung eines Geschäftes denken wohl die wenigsten, weil ihnen dazu doch wohl stets die nötigen Sprachkcnntnisse fehlen -- wer nicht zu min destens einigermaßen Spanisch kann hat über haupt nichts in Brasilien zu hoffen! — sondern üe meisten denken daran, sich hier irgendwo an- usiedeln. Diese Möglichkeit besteht natürlich. -Ke brasilianische Negierung ist gern bereit, An- b-dlern eine Landvärzelle in Pacht zu geben, ^ie gewöhnlichen Bedingungen sind dabei, daß ich die Betreffenden verpflichten, eine bestimmte Avahl von Jahren auszuharren und während Keter Zeit einen Teil von den Produkten des irbar gemachten Bodens als Pachtzins abzulie- wrn. Nach einer gewissen Zeit geht das Land dann in den Besitz der Ansiedler Uber. Das hört sich gewiß schön an, ist in Wahrheit aber keineswegs so verlockend, wie cs sich viel ¬ leicht anhört. Diese Parzellen, die abgegeben werden, find nämlich fast alle mehrere Tage reisen von der Küste entfernt, so daß die kleine Siedlergesellschaft, völlig von der übrigen Welt abgeschnitten im Urwald Hausen muß. Es be darf fast immer tagelanger Ritte, um die nächste Ortschaft zu erreichen. Was das für Krankheits fälle bedeutet, mit denen bei dem mörderischen Klima immer gerechnet werden muß, kann sich jeder selbst ausmalen. Es müssen sich also fast immer mehrere Familien zusammen tun, um wenigstens aneinander einen gewissen Anhalt zu finden, um sich gegenseitig unterstützen zu können. Das bedingt jedoch wieder, daß eine ziemlich große Strecke Bodens urbar gemacht werden muß, um die Gesellschaft auch ernähren zu können. Man stelle sich ferner vor, welche Entbehrungen sich die Frauen auferlegen müssen, die ihre Männer hierherbegleitet haben! Man bedenke, was es für die Psyche eines an euro päische Verhältnisse gewöhnten Menschen be- oeutet, von der Kulturwelt völlig abgeschnitten im undurchdringlichen Urwald Hausen zu müssen, stets das Gewehr bereit zu halten, um sein Leben gegen reißende Tiere und Schlangen ver teidigen zu können. Viele, die ins Innere des Landes zogen, sind nie wieder zurückgckehrt. Viele haben nach ein paar Monaten zähester Arbeit alles schon Geschaffene im Stich gelaßen, sind der Wildnis entflohen und ärmer, als sie je gewesen sind, in den Städten wieder aufgetaucht. Das alles will wohl überlegt sein, bevor man derartige Pläne zur Ausführung bringt. Nun gibt es natürlich auch noch andere Arten, um Geld zu verdienen, und eine der sichersten, wirklich etwas zu verdienen, ist das Gummi-Sammeln. An den Ufern des Amazo nenstromes und seiner Nebenflüsse dehnen sich unabsehbare, nie zu erschöpfende Gummiwäldcr aus, und hier haben in der Tat Europäer loh nende Arbeit gefunden. Wer bei dieser Be schäftigung 10 Jahre auszuhaltcn imstande ist, kann wirklich zu Geld kommen. Natürlich sind auch hier verschiedene „Aber" dabei. Erstens einmal gibt es nicht viele Gegenden auf der Erde, die ein so ungesundes Klima haben, wie die Gegend um den Amazoncnstrom. Zweitens lebt der Gummisammler im stündigen Kampf mit dem Tier, das hier seine eigentliche Heimat hat. Der Jaguar — auch amerikanischer Tiger genannt — ist zwar von Mexiko bis Paraguay verbreitet, am meisten trifft man ihn jedoch ge rade im nördlichen Brasilien, also in der Nähe der Gummiwäldcr. Die Eingeborenen der hier liegenden Ortschaften können ei» Lied von ihm singen. Kein Monat vergeht ohne Opfer. Es gibt Gegenden , wo er so frech ist, daß er bis ins Dorf kommt und sich Schafe und Hühner direkt aus dem Stalle holt. In Sapuosoa kann man die Tiere fast jede Nacht auf dem Marktplag l..üllen höre». Das ganze Maymis wimmelt von ihnen. Es ist ganz falsch, wenn Auswan- oerungsagentc» ihren gläubigen Zuhörern vor reden, der Jaguar sei feig und greife nie einen Menfchen an. Das mag für unbewohnte Gegen den stimmen, wo er den Menschen nicht kennt, ihn für stärker hält und ihm deshalb, wenn er wirklich einmal einen trifft, vorsichtig aus dem Wege geht. Hat die Onze, wie der Jaguar in Brasilien heißt, aber ein einziges Mal Menschen fleisch gefressen, so ist er überaus erpicht darauf. Ls ist geradezu lächerlich, wenn Geschichten er zählten werden, daß ein guter Hund ein völlig ausreichender Schutz gegen die Onze sei. Ter rennt, wenn er sie auch nur von weitem wittert. Ich kann auf Grund meiner Erfahrungen nur sagen, daß meiner Ansicht nach 2l> ausgezeichnete Doggen keinen ausgewachsenen Jaguar über wältigen können. Auf eine Begegnung mit die sem Tier muß der brasilianische Auswanderer gefaßt fein, und man sollte also bei allen Plä nen nie vergessen, den Jaguar in die Rechnung einzusetzen. Man könnte natürlich »och von an deren Gefahren spreche», könnte die Alligatoren, die Giftschlangen, die Insekte» erwähne», deren Stich de» Tod bringen kann, aber die bis herigen Ausführungen dürste» wohl genügen, allen Auswanderuttgslustigen eine Lehre zu sei». 'Wer den Gefahren des Urwaldes trotzen will und bereit ist, sein Leben aufs Spiel zu setze», der komme herüber, für alle übrigen aber ailt das Wort: „Ich warn« Neugierige!"