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Es gilt zunächst, den reinen Spiegel des kindlichen Gemüts zu bewahren, den Zöglingen die Naivetät zu erhalten, den schönsten Schmuck der Jugend, in welchem die Kinder so herzig, so anziehend, so hochinteressant erscheinen, so liebens würdig ; es gilt überhaupt, das Gute im Zöglinge zu pflegen und zu mehren; es gilt weiter, das Böse aufzudecken, durch das Gute zu bekämpfen, es zu unterdrücke» und den Zögling vor neuen Verirrungen mit aller Vorsicht und Umsicht und mit allem Fleiße zu bewahren; es gilt endlich, dem Zöglinge in allen Fällen und allen Richtungen, welche zum Ziele führen, anregend, weckend, entwickelnd, führend, tragend, hebend zur Seite zu stehen und zwar ohne allen Eigennutz, in aller Demut. Dem Erzieher soll nichts lieber sein als die Naivetät seiner Zöglinge, und er soll durch eigenes kindliches Wesen diese edelste, lieblichste Eigenschaft der Jugend zu erhalten sich bemühen und sie so pflegen, daß sie vom Jünglinge, von der Jungfrau niemals ganz abgestreift werden kann. (O, wie hat Schulrat Köhler seine Zöglinge ermahnt, kindlich zu werden und zu bleiben!) Durch Anbau eines breiten, oberflächlichen Wissens, durch vorzeitige Einführung in Gebiete der Wissenschaft, durch Vernachlässigung des selbständigen, erfahrungs mäßigen Urteilens, durch unvorsichtige Kritik dessen, was den Zöglingen allezeit erhaben, ja heilig sein sollte, durch vorherrschend verstandsmäßige Behandlung heiliger Stoffe, durch Aufgaben, welche über die Köpfe der Zöglinge gehen, durch unser eigenes unbescheidenes Wesen, durch unzeitiges und unvorsichtiges Lob, durch hastiges Drängen und Treiben zum Wetteifer, durch Begünstigung des widerlichen Strebertums, durch Heranbildung sogenannter „Paradepferde" unter den Zög lingen, durch vorzeitiges Jagen nach dem Ziele — rauben wir den Zöglingen das naive Wesen, machen wir sie zu blasierten, gesättigten, aber armen, verlorenen Menschen. Wohl dem Lehrer, der sich von all den angeführten Thorheiten frei gehalten hat; ein solcher ist nur ein Segen für seine Schüler! Wenn ein Kind, ein Zögling, verirrt ist, wie etwa ein blasierter Jüngling oder ein lügenhafter Knabe, so muß unsere dienende mütterliche Liebe in ihrer vollen Kraft hingebend arbeiten. Dabei gilt es aber, zuerst und zuletzt, zu dulden, zu tragen, zu leiden. Ja,wer erziehen will, muß leiden, innerlichst leiden, lä. sonst fehlt die überwindende Liebe, welche sich in der Geduld bewährt. Geduld ist das Vierte, worin die Liebe sich zeigt. Nicht nur bei sittlichen Mängeln der Zöglinge ist Geduld nötig, sondern auch dazu, die Schüler und Schülerinnen im Wissen und Können stetig zu fördern, weil die Kinder meist nur ganz allmählich fassen, verarbeiten, einsehen und an wenden lernen. Die Geduld der Liebe befähigt den Lehrer mehr als die pädagogische Kunst, sich dem Zöglinge anzupassen, ihn recht angemessen zu unterrichten und zu behandeln, sich mit ihm unablässig freundlich zu mühen, wenn es not ist, zehn verschiedene Wege zum Ziele zu versuchen, in der Not erfinderisch zu werden (Wieder ein oft gethaner Ausspruch Schulrat Köhlers!), über den kleinsten Fortschritt sich zu freuen, keinen Schwachen zu vernachlässigen, vielmehr jeden derselben in seiner Art auch stark zu machen, zufrieden zu sein, wenn alles langsam, aber sicher vor wärts geht. Die Geduld des liebenden Lehrers und Erziehers verträgt, glaubt, hofft alles und wird darin nicht müde, sorgt sich wohl, kann sogar von Angst getrieben werden, gerät aber nicht in Verzagtheit, was ja schon Ungeduld wäre. Alles heftige, unbemessene Wesen, aller unheilige Zorn, der das Gefühl der persönlichen Beleidigung oder doch des persönlichen Widerwillens zur Quelle hat, ist ihr fremd,