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— 7 — t. wenn sie auch in sittliche Entrüstung übergehen kann, ja in gewissen Fällen muß, wornach sie sich stets um so größer zeigt, weil sie sich ganz unentbehrlich weiß als erbarmende Liebe. Wo Mißmut, kalte Unlust, mürrisches Wesen, Heftigkeit herrschen, wo alles unruhig, eilig vor sich geht, ist in den Zöglingen, wie in der Pflanzenwelt, kein rechtes Wachsen und Gedeihen möglich. Was die Gärtnerliebe an einer Pflanze A erreicht, die mit aller Lust und Liebe, aller Sorgfalt und Geduld gepflegt wird, das erreicht die fröhliche, geduldige Erzieherliebe im höheren Sinne am Menschen. Wie mancher hat mit einer Pflanze alle Geduld, weil Liebe zu ihr und . Zuversicht zu ihrem Gedeihen, aber mit Menschen nicht, die ihn doch durch ihr Gedeihen unendlich mehr erfreuen und belohnen könnten! Was man für eine Pflanze thut, das thut man für sich, also egoistisch; aber gegen Menschen in reiner Liebe sich verhalten, das erfordert Selbstverleugnung. Würden wir indes an manchen Menschen soviel wahre Liebe wenden, als wir einer Pflanze liebende Aufmerksamkeit und sorgfältige Pflege angedeihen lassen, wahrlich wir würden in großem Segen arbeiten, die Menschen veredeln und sie aufblühen sehen wie anziehende Pflanzen. Daß viele Menschen mit Pflanzen mehr Geduld haben können als mit Menschen, die der Geduld so sehr bedürfen, daß solche als dringendes Gebot angesehen werden muß, klagt sie hart an. Wer zum Bewußtsein dessen gekommen ist, wie viel Geduld anderer er in Anspruch genommen hat oder auch, wie viel an der für ihn nötig gewesenen Geduld gefehlt hat, der wird sich wohl hüten, als Lehrer und Erzieher die große Schuld der Ungeduld mit Kindern und jungen Leuten auf sich zu nehmen, noch nicht zu gedenken viel höherer Beweggründe zur Übung der Geduld. In ihrer ganzen sittlichen Größe und zwingenden erziehenden Gewalt zeigt sich die Geduld der Liebe als Vergebung. Nach sittlicher Verschuldung soll der Zögling Vergebung suchen. Er darf sich solche aber nicht erst nach Erfüllung harter Bedingungen, die er oft in Wahrheit gar nicht erfüllen kann, erst mühsam erwerben müssen, sondern sie muß ihm ent gegengebracht werden, sobald er in sich gegangen ist und Verlangen darnach gezeigt hat; ja der Erzieher muß dem Zöglinge die Vergebung selbst dann in sichere Aussicht stellen, wenn dieser noch im Widerstande beharrt, um ihn dadurch, also durch Güte, zur Buße zu leiten. Nur wo auch dies lange Zeit vergeblich ist, hat gesetz mäßige Strenge ihre volle Berechtigung. So hats der Heiland gehalten, nnd so gab er denen, die sich gewinnen ließen, Kraft zur Besserung. Ein verirrter Mensch kann sich selbst nicht aushelfen, da jede Sünde eine Folge von Betrug und Verblendung ist und die Kraft knechtet; darum eben muß der Erzieher dem Zöglinge, der sich verschuldet hat, zu Hilfe kommen mit freier, starker Kraft, die man nur in der reinen, geduldigen, vergebenden Liebe . hat, und in seiner Liebe dem Zöglinge die Umkehr erleichtern, ja recht ordentlich ermöglichen. Die vergebende Liebe muß aber zugleich eine ernste, arbeitende und betende sein, die sich nicht nur nicht für berechtigt hält, einen Menschen aufzugeben, j sondern sich sogar zutraut, im Bunde mit Gott jeden Verirrten wieder auf den Weg des Lebens führen zu können. So haben wir schon an den Ernst mit erinnert. Solchen erwarten wir vielmehr noch vom Vater als von der Mutter, und wir fordern nun vom Lehrer und Erzieher zweitens, daß er den Zöglingen auch ein Vater sei. Ein Vater soll der Lehrer und Erzieher den Zöglingen sein! Dieser Forderung glaubt man gewöhnlich viel eher und vollkommener genügen zu können als der zuerst behandelten; aber die zweite Forderung ist nicht minder groß als die erste. Im Begriffe „Vater" liegt nicht nur der Begriff des Schaffens und Gestaltens, sondern auch der Begriff der sittlichen Festigkeit und Reife, sowie der Macht und der richtigen Einsicht.