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Leopold Winterhalter stand unschlüssig, auf einmal selbst überzeugt, daß sein Sohn nicht hier sei, fand sich wieder auf der Straße . . . lief weiter . . . wußte nicht wohin . . . durch die hereingesunkene Nacht... bis vor die Stadt. . . Speicher . . . Lagerschuppen. . . Kranen . . . . ein mahnendes Bild: eine mächtige, im Mondschein silbern glänzende Wasserfläche, die eilig ihren Wogen schwall gen Norden wälzte ... der Rhein . . . Unruhiges Zittern der Uferlatcrnen über seinen Fluten ... In die fiel der gemauerte Kai lotrecht ab . . . Kein Geländer da vor ... ein Sprung. . . Gottlob: der Werner war ein guter Schwimmer! Aber die schweren Stiefel, die Kleider . . . Leopold Winterhalter konnte den Fluß nicht mehr sehen. Er machte kehrt, eilte wieder durch die ganze Stadt, schaute den jungen Leuten, die ihm begegneten, unter die Hutkrempe, glaubte oft aus der Ferne den Werner zu er kennen, sah immer neu an den Anschlagsäulen das höh nische: „Tausend Mark Belohnung" . . . „Wohin denn, Herr Winterhalter. . . wohin?" Vor ihm stand Alfred Kühn, der Großindustrielle und Vorsitzende der Handelskammer, der reichste Mann der Stadt und weit hinaus im Land. Er kam mit seiner ele ganten, noch jugendlichen Frau und seiner halbwüchsigen Tochter wie der erste beste Kleinbürger von einem Sonn tagnachmittagspaziergang heim. Seine Grundsätze waren so streng wie der ganze Mann. Heute, am Feiertag, wurde in seinem schloßartigen Sitz am Rhein nur kalt gegessen, die Lu^uspferde standen im Stall, er nahm die Dienste keines seiner Angestellten für sich in Anspruch und öffnete seine Ziergärten und Treibhäuser dem Publikum, während er selbst vor den Toren, zwischen Kartoffeläckern und Pappelreihen, mit den Seinen frische Luft schöpfte. Leopold Winterhalter hatte vor dem vielgenannten Sozialpolitikör, der all die andern hier nicht nur körper lich, sondern auch geistig weit überragte, immer etwas von der scheuen Achtung des Emporkömmlings. Der dort drüben war andere Klasse . . . schon die vierte Generation gefestigten Reichtums, die Frau aus einer Kohlendhnastic des Niederrheins, verwirrend glatt und liebenswürdig, berühmt durch ihre zu ihrer blonden Schönheit abgestimm ten Pariser Toiletten; die Tochter der Mutter wie aus den Augen geschnitten, ein bildhübscher, vierzehnjähriger Back fisch in kurzem Weißen Kleid, offenes kurzes Blondhaar um das schmale Gesicht. Leopold Winterhalter beherrschte sich. Er tat, als sei nichts Besonderes vorgefallen. „Ah . . . guten Tag, Herr Geheimrat! Guten Tag, die Damen! ... Ich dachte, Sie wären noch drüben in Karlsruhe zur Sitzung der Ersten Kammer!" „Nein. Der Tanz geht erst nächste Woche wieder los!" sagte der Geheime Kommerzienrat. Auf feinem rosigen, fein geäderten Gesicht lag der harte Eigenwille des pflicht- erfüllten, allmächtigen Arbeitgebers, der Gehorsam in seinem kleinen Königreich verlangte. Er wechselte einen Blick mit seiner Frau. Er wollte nicht aufdringlich er scheinen. Schließlich sagte er doch in einem absichtlich halb scherzenden Ton: „Na. . . Sie sind wohl auf der Suche nach Winterhalter junior?" — „Uff . . . ja!" — „Vor kaum zehn Minuten haben wir den jungen Herrn noch ge sehen." — „Wa — was?" — „Das heißt... ich nicht. . . aber die Stephanie da" .... er wies auf seine Tochter, „. . . die hat Luchsaugen. Die hat ihn deutlich erkannt! Erzähl doch mal!" Das Kind schob sich eifrig vor und schüttelte sich die blonden Haare aus der Stirn. „Wie wir draußen an der Laubenkolonie vorbeigegan gen sind..." „. . . dem Bauterrain der Bodenkreditbank!" schaltete der Vater ein. „Ja. . ja . . das hab ich eben gekauft! Nur weiter!" „Da ist er gerade von dort gekommen. Zusammen mit noch einem jungen Mann. Der war so alt wie er. Aber der hat mehr ausgelchaut wie ein Arbeiter. Da sind sie zusammen nach der Stadt zu!" „War er's auch wirklich, Fräulein Stephaniche?" „Ja, ganz gewiß!" Der Großindustrielle lachte und gab seiner Kleinen einen Klaps auf die Schulter. „Die Bälge da aus der Höheren Töchterschule — die werden die Herren Primaner nicht kennen!" Leopold Winterhalter nahm sich kaum Zeit, guten Abend zu sagen. Er stürmte davon, blindlings auf den Bauplatz draußen. Da tauchte wieder im Zwielicht hinter den letzten Vorpostenriesen der Mietkasernen die sterbende Laubenkolonie vor ihm auf. Zum Teil schon still und ver lassen wie an jedem Sonntagabend, aber dazwischen Leben, Lichter, Rufe, ein Räumen und Nichten und Poltern und Packen, als rüste sich ein Nomadenstamm, nächtlings seine Zelte abzubrechen und weiterzuziehen. Eine Familie kam ihm entgegen ... der Maschinenbauer Ortlieb mit seiner Frau und seinen vier Kindern, jedes mit so viel Töpfen voll Blumenerde, als es nur irgend tragen konnte, auf dem Arm, um das bißchen eigenen Boden vor dem allgemeinen Zusammenbruch zu retten . . . Sollte er die fragen? Oder andere? Die Leute waren alle so mit sich beschäftigt. . . machten traurige, zornige, aufgeregte Gesichter. Von denen bekam er doch keine rechte Antwort. . . zwei-, dreimal ver- suchte es der Fabrikant trotzdem ... ein unbestimmtes: ... Ja ... ja ... am Nachmittag war solch ein junger Bursch dagewesen . . . aber wohin? . . . „Du liebe Zeit . . . Losse Sie mich aus ... Ich hob mehr im Kopp . . ." Er trat auf die Straße zurück. . . spähte da . . . vermochte kaum mehr, in der Finsternis die Gestalten zu erkennen. Die verloren sich .... es wurden immer weniger . . . . schließlich ein Schweigen weit und breit. . . eine Dunkel- heit... in ihr dort drüben die große Stadt, in die er langsam, mit gesenktem Kopf, zurückschritt. Irgendwo war in ihr der Sohn. Aber wo? Es war umsonst, heute noch weiter zu suchen. Werner Winterhalter war ver schwunden. Zweites Kapitel. Vor Tag und Tau. Nächtlicher Herbstwind in den schwankenden schwarzen Türmen der Pappeln rechts und links vom Weg. Sternengeglitzer über der weilen Rhein- cbcne. Vorn, über den dunklen Wellen des nun schon ganz nahen Odenwaldes ein langer, wagerechter, den ganzen Osthimmel umspannender glühender Streifen . . . Marschtritte auf der Chaussee. Tie eigenen und zur Seite die des jungen Schlossers. Ein Glück, daß der wie ein Stück gutmütiger Vorsehung neben einem geht. Denn man selber . . . man hat nicht umsonst neun Jahre Gym nasium hinter sich . . . unpraktisch . . . verbüfselt. . . welt fremd ... alle wirklichen Dinge einem ein Rätsel. Dagegen der Robert . . . Im Augenblick hat er mir in der Her- berge, in der die Handwerksburschen dicht gedrängt am Sonntagabend saßen, meine goldene Uhr verkümmelt. Ausweispapiere? Gegen den Erlös aus der Uhr mit Kußhand. Dahinten in der Ecke der Mann mit dem schmutzigen Gesicht war Spezialist für Flebben. . . Ein fettiger, verschmutzter Heimatschein .... füH den Haus burschen Philipp Schäfer, neunzehn Jahre alt, aus Rödel heim bei Frankfurt am Main . . . Gott mag wissen, Philipp Schäfer, wo du augenblicklich Bier zapfst und Stiefel putzt und wie du deinen Heimatschein losgeworden bist. Jedenfalls hab ich ihn in der Tasche. . . bin du . . . Ein Korn im Sand . . . versunken in der großen dunklen Menge. . . Werner Winterhalter warf kampflustig den Kopf in den Nacken und wanderte drauflos. Neben ihm sagte der junge Schlossergeselle: „Gut, daß mein Schwager Sie die Nacht hat auf'm Sofa schlafe loste . . . Daheim hawwe wir überhaupt nur ein Bett, der Vadder und ich." — „Wie geht denn das?" — „Ha ... er ist doch Nachtwächter und ich schaff' bei Tag!" — „Und Ihre Mutter?" — „Die is schon lange tot!" Robert Kienast erkannte in der Dunkelheit den Schattenriß eines Walnußbaumes, bückte sich, suchte auf der Erde und reichte seinem Begleiter eine der glatten grünen, zu Boden gefallenen Früchte. „Reibe Sie sich norr ordentlich mit dene Schale die Händ! Sonst merkt der Stumpf, daß Sie aus 'em Kaufmannslade kumme und kei Hausbursch net sind!" — „Wer ist denn der Stumpf?" — „Der Polier uff'm Neubau! . . . Grob is Ihne der Mann! Aber da hawwe Sie Glück: am Montag mache so viele blau! Da ist er froh, wann einer kummt!" lForrsetzung solgt.)