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Vermischtes Gretchen ohne Gretchenzopf. Im Alten Theater in Leipzig war Gretchen im „Faust" ohne die blonden Zöpfe erschienen. Sie war zwar nicht kahl, aber sie trug nur Locken, die echt waren und festgewachseu und dazu noch kastanienbraun, was gegen die Tradition war. Die Goetheverehrer sahen in Gretchens eigenen Haaren eine Verbalhornung des Gretchenbegriffs und verlangten energisch, daß Gretchen wieder, wie früher und wie das in Goethes eigenhändigen Regiebemerkungen für „Faust" vorgeschrieben ist, lange blonde Zöpfe trage. Die Theater leitung hat den Wunsch erfüllt; Gretchen tritt auch in Leipzig wieder mit Zöpfen auf, und der Theaterfriede ist gesichert. Die Heimkehr der verlorenen Ehefrau. In Thalc km Harz kehrte eine Frau, die vor 23 Jahren ihren Mann verlassen hatte, nachdem das Ehepaar bereits die Sil berne Hochzeit gefeiert hatte, ganz plötzlich aus Amerika zurück. Sie wurde mit Begeisterung ausgenommen, und die alten Herrschaften wollen im nächsten Jahre die Gol dene Hochzeit feiern. Der „Kaffeebohnenmotor". Der Uhrmacher Franz Amon in Berchtesgaden hat nach vielen mißlungenen Ver suchen, die jahrelang dauerten, den kleinsten Motor der Welt hergestellt: der Motor Hai nur die Größe einer Kaffeebohne. Praktisch bedeutet er eine wertlose Spielerei; immerhin aber arbeitet er wirklich und leistet ein Hun dertstel US. Man wird dabei an die aus vielen Aus stellungen vorgeführte Uhr aus Strohhalmen, die tat sächlich die Zeit anzeigt, erinnert. Katzenkrieg in Alt-London. Mahfair ist der Welt ein Begriff. Vornehmheit, Ruhe, alte Häuser, sehr alter Adel, noch ältere Damen. Etwas müde und weitab von jenen Gefilden, in denen das an sich sonst sicher betrübliche, weil unmoralische Nachtleben von London um 11 Uhr abends schließt. Dann ist jene Ruhe über Alt- und Neu-London, die es eben nnr in England gibt. Welche Beleidigung der nächtlichen Maje stät faucht da durch die Straßen, kreischt, lacht, winselt, liebt, zankt, girrt da rum? Das sind die Maifair-Katzen, die sich den Berkely Square, eins der historischen Vierecke zum Turnierplatz, ausgesucht haben. Die Katzenritter kämpfen um die Katzenfräuleins, die von den hohen Ballonen der alten Adelshäuser zuschauen. Ein einfacher bürgerlicher Mensch würde den Krach als gemein und miserabel bezeichnen. So tat es sogar der hochehrenwerte Charles Mappin, der vierte Träger des Baronettitels, 23 Jahre alt und augenscheinlich nicht mit jenen eisernen Nerven begabt, die jahrhundertelang die Engländer so ausgezeichnet haben. Das Katzenviehzeug zerstörte ihm den wohlverdienten Schlaf, und das am Berkely Square. So schrieb er an alle seine Freunde und Freundinnen in der Mayfair-Gegend eine Einladung ans: „Kommt am Freitag, abends um lO Uhr, zur fröh lichen Katzenjagd hinter den Windhunden. Eine Katze, die sich nicht sofort ausweisen kann, wird eingesperrt, auf bewahrt und —" Ja, was und . . .? Die Komödie ist aus, nun beginnt die Tragödie. Nicht nur den alten Ägyp tern war die Katze heilig, sie ist es auch den modernen Engländern. Ganz London wimmelt nämlich von Katzen, teils um das Mäuseheer zu bekämpfen, teils wegen der „hochwohlgeborenen alten Ladys". Die Katzenpflege ist längst zur heiligen Handlung geworden, und der junge Baron Mappin hat den Katzentempel entheiligt. Lady Cable, Lady Windham, Lord Woolavington, Lord Midle- may of Flete und Lord Queensborough, alle Anwohner von Berkeley Square, protestieren. Sie schreien ihre Ent rüstung in die Welt, d. h. in die großen Zeitungen. Alle zusammen sind einige 100 Jahre alt. Um so stärker fällt dieser Protest ins Gewicht. Man behauptet, sie wären taub und hörten das Gejammer der Katzen nicht, und man möge doch Mitleid mit dem jungen Baronet und seiner gestörten Nachtruhe haben. Nun ist der Katzenkrieg in London im Gange. Welche Partei wird siegen? Die „hochwohlgeborenen alten Ladys", die alten Lords oder die jungen Baronets? Ich wette auf die Alten, denn in London ändert sich doch nichts. Die Polizei wird die Jungen angreifen, wenn sie zusammen mit den Katzen die Nachtruhe von Alt-Loudon stören. Die Reporter bekommen Stoss. Die Filmoperateure marschieren am Freitag abend auf. Ganz London gibt sich ein Rendezvous in Mayfair. Tallyho, der Katzenkrieg ist eröffnet. Die Jagd ist frei. 3m Berliner Zeughaus. Ein Gang durch die Wasfcnkammer des Preußischen Heeres Von Schwarz van Berk. Woher wissen diese Hunderte von Berliner Jungen, di, jeden Sonntag zwischen Lafetten, Waffcnschränken und Gewehr ständern herumstrolchen, daß es noch ein solches Haus gibt in dem die Dokumente einer heroischen Zeit gesammelt sind' Der militärische Trieb muß seine besonderen Geheimpfad: Haben, aus denen er sich an die jungen Gemüter heranpirsch und ihnen hinter der friedlichen Schulhofmauer eingibt, sicl um gefährliche Dinge zu kümmern. Denn diese Jungens sind ohne jede Aufsicht, ohne Eltern zumeist, in Trupps Ihre Gespräche sind gründlich, aufgeweckt selbstverständlich Bis zu den Lederhandschuhen Friedrichs des Großen wisse: sie Bescheid, aus denen seine Daumen hervorlugten, um di Prise in die hagere, große Verächternase zu reiben... Dieses Zeughaus zwischen Universität und Schloß, in Viertel der Museen und Denkmäler, auf einem Gelände, i: dem sich wie auf einer Insel im weststädtischen Betrieb Staatsgeist in Stein, Bronze und grünen Kuppeln streng uni feierlich erhalten hat, ist doch kein Museum, sondern geschicht liche Stätte, die Waffenkammcr Preußens. Und die Wass war der Geburtshelfer Preußens. Aus ihren Sälen uni Gewölben rollten donnernd die Zentnermörser, flutete bla: und rot und schwarz und weiß die Equipierung der Garden das Messing der Helme und die blinkenden Bajonette. Amboss dröhnten, und Funken sprühten Sterne, Feuer der Schmieder züngelte über die Fenster in den schweren Nächten der Ge schichte, da der König in schlesischen Bauernstuben philosophisch, Gespäche führte, um das Elend mit Aphorismen zu betrügen Und der seidene Blust erbeuteter Fahnen neigte sich rauschend wenn er durch die Pforten getragen wurde, um die höher Mauern mit einer Borde des Triumphs zu schmücken. . Bist du Soldat gewesen, so spricht dieses Haus zu di: w:e ein zeitloses Kommando. Es ruft aus jedem Stein un! Winkel, aus Stahl, Tuch uud zerbeulten Fanfaren. Hier isi kcm Gerat ohne Feuerprobe, hier ist auch die Satteltasch« noch Dokument. dunklen Eingangsraum nisten starr die Mw schmen Richthofens uud Boelckes, der rote Dreidecker uud de: graue, schlanke Fokker, wie Grabmale bekränzt mit Lorbee: und Schleifen, von Menschen umlagert. Im Lichthof rager aus buntfleckig getarnten Leibern Geschützrohre, die ihr Feuer über die Somme, den Kemmel, den Ipernbogen der Jnfanteri« zu Hilfe schickten, mit Raupenrädern tief in Schlamm und Mulm versackt. Neben ihnen sind wie Grabsteine Platten in den Boden gelassen: hier standen die erbeuteten Gegen spieler. Abgeliefert! Leere Fahnengerüste an den Wänden: hier waren die Beutefahnen von 70 und 71 aufgereiht! Nicht abgeliefert! Studenten verbrannten sie vor dem Denkmal Friedrichs des Großen, draußen auf dem Platz, mit List ent wendet im Juni 1919, am Tage nach Scapa Flow. Unter den verbliebenen Fahnen, die spröde, mürbe und mit matten Farben auf Netze gespannt sind, daß sie nicht zerrieseln, gerade über der Tür leuchtet am Weißen Schaft eine zierliche neue, himmelblau und sonnengelb, die Fayne, die dem Andenken der schwedischen Offiziere gewidmet ist, vor ein Paar Jahren, enthüllt von dem Generalobersten von Seeckt. Er sagte ihnen den Dank einer ganzen Nation für die Treue der vier schweren Jahre, die sie für uns auf sich genommen hoben, freiwillige Waffengesährten, er sagte ihnen in seiner herben Art, mit der :n Preußen auch noch die Sprache des Herzens in Zucht genommen wird. Blau und golden leuchtet der Dank. In den großen Sälen ist vieles aufgereiht in der Art, mit der man früher Museen einzurichten Pflegte, sehr sach lich, Flinten bei Flinten, Röcke bei Röcken, Orden für sich und Trommeln in einer Reihe. Kleine bekleidete Puppen mit ollen Farben des Spektrums, eiue Zeitrevue der Garde uniformen, gebündelte Lanzern Standarten an Pfeiler gelegt. Rittersäbel, Arkebusen, Radschloßflinten, Bogen und Köcher. Schwere Barockkolben mit überladenem Schmuck, kein Mensch j stellt sich ein Jagen damit vor, es sei denn, daß man das Wild mit Leibjägern vor die Mündung getrieben. So wird es denn auch gewesen sein. Diese Stucke mögen Waffen- und Büchsenmcister erfreuen. Das Wesentlichste dieses Hauses aber, seine Anekdoten zur Geschichte, sind überall unter die Fülle des Materials ge mischt. Da sind auf Samt Fahnenspitzen mit dem ver schlungenen F. R. geheftet. Lies die Episode darunter: „Fahnenspitze Regiment Kalckreuth Nr. 4, 1806 bei Halle ab geschossen und durch den Fahnenjunker von Oettlinger im September 1808 dem König persönlich überreicht." Zwei Jahre hat er die Spitze mit sich getragen, aus der dunkelsten Stunde gerettet. Er gab dem König ein Stück Armee zurück. Da sind die Fetzen einer Fahne, zu lesen noch die Worte „kkO «LOKI 2, LP Es ist vermerkt, daß si- ein Junker aus der Kapitulation von Prenzlau rettete und ebenso dem König nach Jahren ablieferte. Da der Hut Gneisenaus, unter dem ein Hirn steckte, angesengt vor "ressendem Ehrgeiz, in der Entscheidung der Schlachtführum ur Ruhe und Exaktheit gezwungen. Und der Säbel Welling ons, ein Ehrengeschenk an Blücher, ein historisches Dokumer üe der Hut des Korsen, bei jenem Waterloo oefunden. specki und rußig wie der Zylinder eines Schornsteinfegers, aus dünnem Filz. Kennst du die Sporen Blüchers, dieses Mannes mit dem schlechten Deutsch und dem bravsten Herzen, dieses schneidigen Großvaters? Es sind goldene Schnäbel von ziselier! gefiederten Reihern, zwischen denen sich Rädchen drehen. Seir riesiges Perlmutterbrennglas — das hat er über den Knaste: seiner Porzellanpfeife gehalten, wenn die Sonne schien. Abei wann sollte das nicht gewesen sein, wann sollte dieser Feld marschall keine Sonne über sich gehabt haben? Eine Aus stellung für sich: des Hans Joachim von Ziethen Panther- fell, bedeckt m:l Sonne, Mond und Sternen und einen Herzen aus Messing, jawohl, einem Herzen, groß wie eir richtiges Menfchenherz. Habt ihr von dem Herzen dieses verhutzelten, alten Männleins gehört? Aber es muß schor dcigewesen sein; denn sein König hatte seine Häßlichkeit of! in den Arm genommen. Becher, Pokale, groß wie Altarkelch« aus Zinn darunter, und darüber diese höhe Mütze mit dem Adlerflügel, eine phantastisch-germanisch-mhthische Kriegs- tracht. Friedrichs letzte Uniform, eine kleine schäbige Montm für den Eremiten von Sanssouci, die welken Handschuhe, ver schiedenfarbig dazu, liegen vor den gewichsten rindlederner Stiefeln, Futterale ewiger Hände, die über Flötenholz spielten, im warmen Halsfell der Hunde kraulten, Bataillone zusammen krallten, Verse schrieben und ein geharnischtes Testamen! hinterließen. Diese dürftigen Reste dessen, was bedeutende Menscher auf dem Leibe getragen, scheinen Feierlichkeit zu atmen. Auch das dürftigste Gewebe ist durchsponnen mit den geheimnis vollen Fäden der Größe. Kommt man zurück von den Requisiten der Geschichte so muß man noch einmal durch die großen Säle, die in der Gründerjahren geschmückt wurden, mit rotem Marmor, ge waltigen Wand- und Deckengemälden, riesigen Bronzen der Hohenzollern und ihrer Generäle. Es ist ein Pathos in dieser Räumen, das wir heute kaum noch ertragen. Diese Füll« von Farbe und Metall, von Vorhängen und pompöser Düster heit bedrückt uns mehr, als sie uns aufrichtet. Es ist über triebenes, überhäuftes Barock. Wir treten auf die Freitreppe wieder hinaus. Im Hinab- steigen erscheint eine Maske, die Maske eines sterbender Kriegers, von Schlüter gehauen. Ringsum läuft der Frist von Soldatenköpfen, an ihren Schöpfen, junge wie alte, if eine steinerne Zwinge gefaßt, eine Flucht von gequälten, ver bundenen, von ausgelittenen, verklärten Gesichtern, die unte: der Fahnenparade die Sprache des ewigen Krieges reden. Bücherschau. Erfolgreiche Konferenzen sind die Redaktionssihungen der Fliegenden Blätter. In ihnen wird man sich immer einig über die besten neuen Witze, die lustigsten Anekdoten aus der Fülle des Vorgelegten und jedes der wöchentlich neu erschei nenden Hefte beweist die ehrliche Mühe des Suchens und Zu- fammenstellens. Humoresken und Massen, Satiren und witzige Randbemerkungen zu den Tagesereignissen — unterhalten, in formieren und regen an, lyrische und lustige Lieder, gutgebaute Gedichte aktuellen Inhalts beleben durch Form und Reim die Folge der Prosabeiträge. Die Reihe der Reproduktionen künst lerischer und lustiger Bilder erfreut und belustigt Auge und Hirn des Beschauers. Das Abonnement auf die Fliegenden Blätter kann jederzeit begonnen werden. Bestellungen nimmt jede Buchhandlung und jedes Postamt entgegen, ebenso auch der Verlag „Fliegende Blatter" in München 27, Möhlstraße 34. Die seit Beginn eines Vierteljahres bereits erschienenen Nummern werden neuen Abonnenten auf Wunsch nachgeliefert. Die ideale Ehe. Der Berichterstatter einer Londoner Zeitung hatte kürz lich Gelegenheit, einen bekannten englischen Künstler zu sprechen: „Man hört ja, Ihre Ehe sei so glücklich. Können Sie mir nicht Ihr Geheimnis verraten?" Der Künstler war eher geschmeichelt als unangenehm berührt: „Warum nicht? Wir sind glücklich, weil... Nein, lassen Sie mich von vorn I anfangen. Als wir uns vor ein paar Jahren verheiraten i wollten, stellte meine damalige Braut eine Bedingung: Auf I aem Lande leben wir unter einem Dach, in der Stadt aber getrennt. Klingt komisch, nicht wahr? Aber ein großartiges Rezept. Wir haben uns noch nie gezankt, und das Schönste ist: Unsere vielen Londoner Freund«, wissen gar nichts davon, daß meine Frau mit dem Kmd hier wohnt und ich ganz wo anders Hause. Wir besuchen uns gegenseitig, sind dann sehr nett und höflich miteinander, und jeder scheut sich, in der Wohnung des anderen einen Streit heraufzubeschwören. Ich kann das Verfahren allen Eheleuten, die Selbstbewußtsein und ein lebhaftes Temperament haben, nur dringend emp fehlen." Leider werden nicht alle Ehefrauen mit diesem reich lich neuzeitlichen Rezept des englischen Lebenskünstlers ein verstanden sein. Sie silberne« K«gel«. Skizze von Franz Mahlke. Christian Halleiner legte das Gesangbuch auf die Kom mode und zog den Gehrock aus. Seine junge Frau fragte ihn, was der Pastor gepredigt habe. „Von den Salzburgern " Da er sonst gesprächiger war und oft von selber seiner Frau den Inhalt der Predigt erzählte, fragte sie, was das mit den Salzburgern sei und ob es ihm nicht gefallen habe. „Die Salzburger Protestanten wurden vor zweihundert Jahren vertrieben, weil sie ihrem Glauben treu blieben. Viele kamen nuch Ostpreußen, und wir selber stammen viel leicht von ihnen ab", sagte der junge Bauer. „Es ist schade, keiner weiß eigentlich recht, von wem er abstammt. Die Eltern und Großeltern kennt man noch, die Urgroßeltern meistens nur vom Hörensagen; aber von denen, die vor ihnen waren, weiß keiner mehr etwas." „Der Herr Pastor aber doch! In den alten Kirchenbüchern steht es. Da muß man nachlesen, und das will ich tun." Seine Augen leuchteten unter der kantigen Stirn. Sein Blick gincp durchs Fenster über die Aecker, als suchte er da etwas,' als sähe er bereits lange Geschlechterreihen, die ihm grüßend die Hände entgegen streckten. „Warum willst Du das tun?" Er nahm die beiden Hände seines Weibes: „Hanne, wir müssen auch mal fort von unserm Hof, von unseren Kindern. Enkel und Urenkel fragen vielleicht einmal, wer wir waren. Damit sie nicht ins Leere fragen wie wir, wollen wir für sie aufschrciben, was wir von uns wissen und was wir in den Kirchenbüchern finden." Die junge Fran legte den Kopf an seine Schulter: „Du hast recht, Christmn. Der Pastor wird uns gewiß dabei helfen. Und wenn wir dann einmal die Augen längst zugemacht haben..." Die Jubelstimme ihres Kindes riß den Satz ab. Ein halbes Dutzend kleiner silberner Kugeln rollte über die ge scheuerten Dielen. Der kleine Klaus kroch hinterher. Seine Aermchen reckten sich. Mit gespreizten Fingern patschte er darauf zu, kratzte sie zusammen. Es gab einen feinen, fernen Klang. Dann schlug er wieder mit der kleinen Faust da zwischen, daß sie wieder nach allen Richtungen'auseintznder rollten. Das Lachen des Kindes gluckste in Hellen Wellen durch die Sonntagsstube. Und sie lachten kräftig mit. Dann aber trat urplötzlich ein lebendiger Ernst in das Gesicht Christians. Er bückte sich hastig nach einer der Kugeln, besah sie aufmerksam und zeigte sie Hanne. „Weißt Du, was das ist? — Sieh mal hier, die Oese! Ein Knopf ist das." Klaus schrie aus Leibeskräften und hob beide Aermchen. „Solche Knöpfe gibt es doch nicht", sagte Hanne un gläubig. „Der Herr Pastor ober yot's stente gesagt." „Ach Du, der wird doch nicht über Knöpfe predigen.". „Die Salzburger haben grüne Westen mit silbernen Knöpfen getragen. In den Kirchenbüchern steht es, hat er gesagt." „Und Du meinst " _, Klaus schrie, daß ihm die Zornader schwoll, während Christian eifrig die Knöpfe von der Diele auflas. „Könnte das wirklich sein?" fragte Hanne, und sie senkten beide die Blicke auf die silbernen Kugeln. Es sah aus, als sähen sie in einen See, als suchten sie einen verlorenen Schatz auf tiefem Grunde. „Woher hast Du eigentlich diese Knöpfe? Du gabst sie dem Jungen doch", fragte Christian nach einer Weile. „Ich fand sie in der Eichentruhe auf dem Boden in einem kleinen Samtkästchen. Was wird's schon sein? dachte ich und gab sie dem Kinde zum Spielen." Wieder senkten sich ihre Blicke auf die silbernen Kugeln un Handteller. Der kleine Klaus hatte sie vergessen. Er knetete ein Wollknäuel. Die junge Katze tatzte danach, und es rollte über die Dielen. Aber das Fadenende war ihm in den Fingern hängen geblieben. Er hielt es krampfhaft fest, jauchzte auf, wenn die große grane Kugel vor den Katzenpfoten durchs Zimmer trudelte. Christian legte den Arm um Hannes Schultern, und sie gingen schweigend über die knarrende Bodentreppe. Bald standen sie vor der braunen Eichentruhe. Breite schmiedeeiserne Beschläge waren auf den gewölbten Deckel genietet, griffen über die zolldicken Backen. Christian und Hanne standen vor der Truhe wie vor einer Wiege, in der Geschlechter schlafen, die man ohne Not nicht Wecken dürfe. Irgendwo in einem Sparren tickte die Totenuhr. Dann hob Christian den schweren Deckel. Es duftete nach Reseda nnd Lavendel. Scheu tasteten ihre Hände. Sie fanden bunte Kopftücher, grobes Linnen, eine seidene Mantille. Braut schuhe waren da, ein Stück Schleier, ein börsenkleines Säckchen mit Weizenkörnern, säuberlich mit einem Seidenband ver schnürt ein Päckchen Briefe, ein paar ganz vergilbte kleine Bilder bei Gebetbüchern mit ungewöhnlich großen Druck zeichen, eine Pergamentrolle mit vielfach verschnörkelten, bunt ausgemalten Anfangsbuchstaben. Sie ergruben immer mehr Seltsamkeiten, und das Herz wurde ihnen warm. Als sie ihr Kind schreien hörten, dachten sie daran, daß es ja längst Mittag war. Der Deckel knarrte in den Angeln, und sie stiegen hinunter. Die Pergamentrolle, das Päckchen mit Briefen und die Bilder nahmen sie mit. Am Nachmittag gingen sie mit dem Pergament zum Pastor, weil sie die Schriftzüge nicht deuten konnten. Der Geistliche rätselte lange darin herum, holte dicke Bücher aus dem Schrank, bekam einen heißen Kopf dabei, und dann sagte er: „Halleiner, habe ich doch recht! Ihr seid ein Nachkomme jener Getreuen, die nm ihres Glaubens willen Vertrieben wurden nnd hier eine neue Heimat fanden." Da holte Christian die silbernen Kugeln aus der Tasche und hielt sie ihm hin. „Auch das noch! Kinder, Ihr seid leben dige Geschichte. Wie wenige wissen das." Bald wurde in: ganzen Dorfe von dem Trnhcnfnnd der Halleiner gesprochen. Jeder wollte auch gern ein Salzburger sein. Alle Bauern durchstöberten ihre Hausböden und die Kirchenbücher. Es kam ein großer ehrlicher Stolz über sie alle, der starke Glaube der Ahnen erwachte und wuchs in ihnen, der Wille, die harte Gegenwart zu meistern und eine bessere Zukunft sich und den kommenden Geschlechtern zu erkämpfen.