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EMANUEL DE WITTE (1617-1692). Als ein besonderes Fach der holländischen Malerei entwickelt sich im 17. Jahrhundert die In nenraumschilderung, die sich menschlicher Figuren nur zur Be lebung oder zur Verdeutlichung der Raumweite bedient. Schon bei Jan van Eyck zeigte sich in Bildern der Madonna, die in einem herr lichen, sorgfältig ausgeführten Kirchenraum thront oder steht, bei anderen Malern der späten Gotik auch in liebevoll geschilderten Stuben ein starkes Interesse für das Interieur. Später, im 16. Jahr hundert, finden die Künstler Gefallen daran, ihre Beherrschung der Perspektive an besonders verwinkelten Raumkonstruktionen zu er weisen. War für die Gotik die menschliche Figur noch Hauptsache, so verschob sich im Zeitalter der Renaissance und des Manierismus für die Künstler, die einen Innenraum schilderten, das Interesse zu gunsten des Raumes selbst. Phantasiekirchen und Prunksäle wurden ins Phantastische gesteigert, ja man ging darin bis zur Spielerei. Im Barockzeitalter wandelt sich die Raumauffassung der Maler aufs neue. Die plastisch-lineare Konstruktion tritt jetzt zurück gegen über dem Augenerlebnis des Künstlers, den das Spjel des Lichtes und der Farben reizt. Er bedarf nicht unbedingt menschlicher Fi guren in seinen Raumschöpfungen, denn er will nicht die Großartig keit eines Bauwerkes im Vergleich zu der Winzigkeit des Menschen zum Ausdruck bringen, aber er verwendet sie noch gern, weil sie als reizvolle Farbflecke im Gemälde eine Rolle spielen können, weil sie ihm als Stimmungsfaktoren wichtig erscheinen oder weil sich mit ihnen, yor allem bei Kircheninneren, deren Darstellung namentlich in Delft gepflegt wird, die Würde des Ortes veranschaulichen läßt. Der bedeutendste Künstler dieser Spezialgattung ist der aus Alk- maar (nördlich von Amsterdam) stammende Emanuel de Witte. Er ist hier 1636 Mitglied der Gilde, lebt 1639 und 1640 in Rotterdam und tritt 1642 als Ortsfremder in die Lukas-Gilde zu Delft ein, wo er bei einem Stillebenmaler gearbeitet haben soll, aber unter dem Eindruck der hochentwickelten Delfter Architekturmalerei (vgl. Philips Wouwerman: Jagdgesellschaft am Fluß. Berlin, Kaiser-Friednch-Museum Emanuel de Witte: Kircheninneres. Berlin, Kaiser-Friedrich-Museum Fabritius, S. 78) die entscheidende Anregung für dieses Sonderfach erhält. Bereits 1654 finden wir ihn in Amsterdam, wo er seine Kunst zur höchsten Meisterschaft entfaltet. Gleich anderen hollän dischen Spezialisten hat er sich gelegentlich in einem anderen Fach versucht. Seine „Spinettspielerin“ (Diepenveen in Holland, Privat besitz) und sein „Familienbildnis“ (1673; Bristol, Privatbesitz) kommen guten Interieurbildern de Hoochs recht nahe. Außerdem hat er eine Anzahl Darstellungen von Gemüse- und Fischmärkten sowie eine phantasievoll erdachte italienische Palastarchitektur (1664; Leningrad) gemalt; aus der Jugendzeit kennt man sogar mythologische Bilder, wie „Danae“ (1647) und „Ceres“. In seinem Hauptfach, dem Kircheninterieur, liebt de Witte in teressante Überschneidungen und Abweichungen von der Mittel achse. Aber es geht ihm nicht um klaren Grundriß und Aufriß oder um „photographische“ Treue, wenn er nicht einen bestimm ten Bau wiedergeben will; am wichtigsten ist ihm die durch mannigfaltiges Licht hervorgerufene Raumstimmung. Wie es auch unser um 1667 entstandenes Phantasiebild einer Kirche im Ber liner Museum (56 X 65 cm) zeigt, hüllt er gerne den Hauptteil in ein schummeriges Helldunkel. Ein nicht zu grelles Sonnenlicht dringt, einzelne Stellen hell beleuchtend, durch die Fenster und erzeugt ringsum Reflexe an Säulen und Wandflächen. Der Meister gibt hier einen langen, durch Säulen nicht verstellten Anlauf an einer Treppe vorbei und trifft nun auf einen der Vierungspfeiler, läßt uns dann mitten durch das dunkle Stück des Chorumgangs ins Helle blicken und links davon durch das Glas eines breiten Fensters ins Freie auf ein rot schimmerndes Dach; ins Freie führt auch die breite Treppe. So herrscht ein abwechslungsreiches Licht, und dicht neben hellen Partien stehen alle Abstufungen von Schatten. Naturgemäß ist der Farbwechsel solcher Bilder bei der Schmucklosigkeit protestantischer Kirchenräume nicht groß, aber wo ös angeht, bringt der Künstler einen Farbfleck an, ein röt liches Gesicht, ein farbiges Kleidungsstück oder einen bräunlichen