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venezianisch das Bild nun auch ist, es offenbart doch die gänzlich veränderte Geisteshaltung einer neuen Zeit. Die dekorative Schönheit des gleichmäßig gefüllten und teppichartig durchwirk ten Bildfeldes, die durchaus im Wider spruch steht zum festen, klaren Auf bauschema der Renaissance, gibt dem Bild etwas Duftiges, Leichtes, Schwe bendes. Keine der drei nackten Frauen steht, sitzt oder kniet wirklich klar und deutlich, obgleich ihre Körper und Glieder feste Umrisse haben; ohne wesentlich verkürzt zu sein, füllen sie fast die ganze Bildfläche aus. Es sind die drei Grazien, in der Mythologie der Alten die Gottheiten der Anmut, Verkörperungen festlicher Freude, strahlenden Glanzes und blühenden Glückes, in ihren Händen symbolhaft ihre Attribute Würfel, Rose und Myrte haltend. Zu ihnen tritt, dem ersten Blick kaum sichtbar, Merkur, der Schönredner und Gott der Kaufleute, der zu seinem Geschäft der Anmut und Gewandtheit bedarf, dessen Erschei nen Glück, Erfolg und Gewinn ver heißt. Aber was treiben die vier Per sonen, warum verbergen sie ihre Ge sichter, als hielte Trauer sie umfangen ? Wo ist die ausgelassene Sinnenfreude der griechischen Götterwelt geblieben, die in den mythologischen Darstellungen der Renaissancekünstler so beredt von dem heiteren Lebensgenuß jenes glücklichen Zeitalters gesprochen hatte? Nach einer alten Deutung handelt es sich bei den vier Gemälden im Anticollegio um allegorische Verherrlichungen der Stadt Venedig und der Weisheit ihrer Staatseinrichtungen. Aber das verstiegen Program matische allein ist es nicht, das den Gehalt unseres Bildes so freudlos macht, vielmehr kommt diese unfrohe, unsinnliche Wirkung aus der Gesinnung der Zeit, die aller Erotik und anderen irdischen Freuden abgeneigt ist. Die Körper vermitteln trotz manchen schönen Umrisses, der tonigen Weichheit der Malerei und mancher sanften Rundung der Körperformen keinen sinn lichen Reiz. Das Spiel des Lichtes, das hier ein Bein, da eine Brust und dort eine Stirn und einen Nasenrücken aufleuchten läßt, und das Spiel der Diagonalen, Parallelen und Kurven, diese ganze echt manieristische Schmücklust, bedeutet dem Künstler der Gegenreformationszeit mehr als der Genuß, den irdische Formenschönheit verschafft. Daher ist der Schoß der Frauen verhüllt, sind die Brüste klein und unplastisch, die Hände und Füße plump, die Gesichter weggeneigt, und die muskulösen Glieder er innern uns daran (was wir aus Studienzeichnungen wissen), daß der Künst ler auch für weibliche Akte männliche Modelle benutzte. In der gleichen Zeit, in der der unermüdliche, nunmehr sechzigjährige Künstler an diesen Werken und der Ausführung anderer Aufträge für den Dogenpalast sowie an einem Zyklus großer historischer Darstellungen für den Herzog von Mantua (heute in der Münchener Pinakothek) arbeitet, ist er auch an dem Hauptwerk seines Lebens, das er bereits 1564 begonnen hatte, erneut tätig. Es ist die Ausmalung des Bruderschaftshauses der Scuola di S. Rocco, einer Gesellschaft, die sich der Unterstützung der Armen und der Pflege der Kranken widmete und der er selbst seit 1565 als Mitglied an gehörte. Schon 1559 hatte er für die Kirche der wohltätigen Bruderschaft ein Gemälde „Krankenheilung Christi“ geschaffen, dem später noch einige weitere große Werke folgten. Die Arbeiten in der Scuola selbst beginnen 1564 in dem kleineren Saal des Obergeschosses, dem Albergo, dem täg lichen Versammlungsraum, mit einer „Verklärung des hl. Rochus“, einem Ovalbild in der Mitte der Decke, um das dann sechzehn kleinere allego rische Darstellungen gruppiert werden. Im nächsten Jahr entsteht das Rie senbild der „Kreuzigung“ mit dem vorn in der Mitte aufragenden Kreuz Christi und den trauernden Angehö rigen und unzähligen Personen, die weit über das Bild hin, tief in den Grund und über die Hügel ringsum verteilt sind. Gewaltig ist alles an die sem Bild, nicht nur die Ausmaße und das Anhäufen aller nur möglichen Be wegungen und V erkürzungen, sondern vor allem das Dämonische der nächt lichen Stimmung, das alle Bildform zu sprengen droht. Unheimlich er regend wirken der scheinbar willkür liche Wechsel der Größenverhältnisse, das spukhafte Emporwachsen von Nachtgespenstern aus dem Dunkel und die geisterhafte Beleuchtung einzelner Figuren, ganzer Gruppen und beson ders der magisch leeren Bodenfläche hinter dem Kreuz. Große Schatten massen sowohl wie grelle Lichtflecken verzehren die Formen und verschluk- ken die Farben, die nur noch vorn unter dem Kreuz flackernd aufleuch ten. Erst zehn Jahre später, nach Ent fernung älterer, verdorbener Malereien wird dem Meister die Ausmalung des großen oberen Saales übertragen, die ihn bis 1581 beschäftigt. Ist dieses Rie senwerk, schon rein als Arbeitsleistung eines einzelnen Menschen betrachtet, das Zeugnis einer ungeheuren Schaf fenskraft, so ist noch erstaunlicher die Größe des gedanklichen und künstlerischen Gehaltes, nur vergleichbar der Arena-Kapelle Giottos in Padua, den Stanzen Raffaels und der Sixtinischen Decke Michelangelos im Vatikan. Man muß sich tief in die Gedankenwelt des Zeitalters versenken, wenn man den ganzen geistigen Gehalt des großen Werkes verstehen will, das sich aus 33 sinnvoll und beziehungsreich ange ordneten Einzelbildern zusammensetzt. Dem irdischen Aufgabenkreis der Bruderschaft, der Stillung von Hunger und Durst der Armen und der Heilung der Kranken entsprechend, schildert die Deckenmalerei die Er rettung des alttestamentlichen Volkes aus leiblicher Not in 21 symbolischen Bildern, während die je 5 Gemälde der Längswände die Befreiung der Menschheit von Leiden und Sünden durch Christus behandeln; dem Altarbild der einen Schmalwand „Erscheinung des hl. Rochus“ entsprechen auf der anderen die monumentalen Einzeldarstellungen der beiden Pest heiligen Rochus und Sebastian. Jedes Bild der Decke und der Längs wände steht zu den benachbarten Bildern in inhaltlicher Beziehung, wie auch jede Reihe längs oder quer durch den Saal gleich den Feldern eines magischen Quadrates für sich und als Gegenstück zu den anderen Reihen ihre besondere tiefe Bedeutung hat und ferner auch größere zusammen stehende Gruppen von Bildern innerlichen Zusammenhang haben. Wir müssen uns hier mit diesen Andeutungen über die unerhört großartige Gedankendichtung Tintorettos begnügen, die in ihrer Erhabenheit nicht dadurch beeinträchtigt wird, daß wir ihrem Inhalt heute vielleicht fremd ge genüberstehen. Uns soll mehr die künstlerische Gestaltung beschäftigen, wo bei wir uns leider auch auf ein Bild beschränken müssen, auf das hier wieder gegebene „Abendmahl“, eines der großen Wandbilder (5,40 x4,87 m). Wenn wir es mit einer der bedeutenden Abendmahl-Darstellungen der Früh- oder Hochrenaissance, also von Castagno, Perugino, Leonardo oder Sarto vergleichen, so ist der Unterschied der beiden Zeitalter sogleich deut lich. Jene Künstler idealisieren die Szene, geben den Figuren, die sie einzeln charakterisieren, edle Haltung und verklärten Ausdruck, schmücken den Raum wie einen hellen Festsaal, stellen den Tisch in der vorderen Bildebene klar übersehbar auf und verbannen alles, was an den Alltag erinnern könnte. Tintoretto schaltet zunächst ganz aus, was andere vor ihm geschaffen haben, und baut sich die Szene gänzlich neu auf, so wie er sich den Vorgang als wirklich geschehen denkt. Christus und seine Jünger sind für ihn arme Jacopo Tintoretto: Merkur und die drei Grazien. Venedig, Dogenpalast