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liehen Gestalt durchstudiert ist, so ist doch bemerkenswert, daß gerade die Köpfe und Hände auffällig gering bewertet sind. Wohl spielt die Rechte des hl. Markus eine wichtige Rolle, aber sie ist ebensowenig durchgebildet wie die übrigen Hände. Ähnlich verhält es sich mit den Köpfen; kein einziges Gesicht ist ganz sichtbar, viele liegen im Schatten, selbst das des Heiligen und des Richters, die meisten sind nach unten oder ins Bild hinein gerichtet, die der beiden Peiniger fast ganz verdeckt. Diese Entwertung des Indivi duums, die in den späteren Werken des Meisters noch deutlicher wird, ist eines der bezeichnendsten Merkmale des manieristischen Stiles. Unser zweites Bild, der wohl wenig später entstandene „Kampf des hl. Georg mit dem Drachen“ (1,57X 0,99m) in der Londoner National Gallery, knüpft in der landschaftlichen Einbettung der Szene durchaus an die venezianische Tradition, vornehmlich an Giorgione, an. Bezeichnend für den manie ristischen Stil aber ist, daß der Hauptvorgang, die Bezwingung des Drachens unter dem Beistand einer göttlichen Erscheinung, nicht, wie es Raffael in seinem berühmten Frühbild geschildert hatte, im Vordergrund vor sich geht, sondern in der Tiefe des Bildes, wo bereits ein Opfer des Ungeheuers erschlagen am Boden liegt. Aus der heroischen, traditionell bildbeherr schenden Monumentalgruppe der Kämpfenden macht Tintoretto ein Neben motiv, ja nicht genug damit, er taucht die Köpfe von Roß und Reiter in ein unge wisses Dunkel und hebt durch die ge suchte Art der Lichtführung das Hinter teil des Schimmels und das flatternde rosa Gewand des Ritters hervor. Den Vorder grund dagegen füllt er mit der Figur der Prinzessin, die sich der Drache aus dem in der Ferne sichtbaren Königsschlosse ge raubt hat, und gibt ihr durch die Bewegt heit ihres Umrisses eine Bedeutung, als sei sie die Hauptsache im Bilde. Ihre ausgrei fende Bewegung pflanzt sich wellenartig und stoßweise durch das ganze Bild fort. Aus der weiteren Entwicklung des Künst lers können wir nur einige bedeutsame Werke hervorheben. Noch heute kennt man über 350 Gemälde Tintorettos, von denen sich mehr als die Hälfte in Venedig, in der Scuola di S. Rocco allein 66 Bilder befinden. Dem kirchlichen Geist der Zeit und der tiefen Religiosität des Künstlers entspre chend sind über 250 Werke Darstellungen aus dem Alten und Neuen Testament und der Heiligenlegende oder Madonnen- und kirchliche Repräsentationsbilder, während nur etwa 40 Bilder der antiken Mythologie oder Allegorie gewidmet sind, etwa 25 der Zeitgeschichte und weltlicher Repräsen tation, die übrigen dem Porträt. Aus den fünfziger Jahren sei vor allem ein Bild genannt, das Tintoretto für die Kirche Sta. Maria dell’Orto schuf, der „Tempel gang der jungen Maria“, ein farbenschönes Gemälde, das offensichtlich Tizians Dar stellung des gleichen Vorgangs in der Ac- cademia in neue Form umgießen will. Eine breite Treppe, deren Stufen ein leuchten des Goldornament zeigen, nimmt fast die ganze Bildfläche ein. Vorn ragen übergroße Figuren mit theatralischen Gesten auf, während die Hauptpersonen in starker Verkleinerung ganz oben in die Tiefe des Bildraumes gerückt sind: der Priester und das winzige, unerschrocken auf ihn zu schreitende Kind Maria. Die Gestaltensind jetzt noch schlanker geworden und haben noch mehr an Individualität verloren als die Figuren des „Markuswunders“. Einer dekorativen Bildfüllung und wir kungsvollen Raumkomposition wird die plastische Einzelform geopfert. Zwei riesengroße Gemälde im Chor derselben Kirche zeigen eine neue Wandlung Tintorettos um 1560 deutlich: „Das Goldene Kalb“ und „Das Jüngste Ge richt“, beide angefüllt mit wildbewegten Gestalten, die noch viel von Michel angelos Formengröße haben. Aber in der schrägen Anordnung großer Grup pen tief in den Bildraum hinein, in der Zusammenfassung gewaltiger Licht- und Schattenmassen bei gespenstisch märchenhafter Lichtführung offenbart sich bereits eine barocke Bildordnung, die mit dem manieristischen Streben nach dekorativer Anfüllung und gleichmäßiger kraftvoller Belebung der ganzen Bildfläche im Kampf steht. Kurz danach, im Jahre 1561, gelingt Tintoretto das Äußerste an perspektivisch genauer und klarer Raumschöp fung in der „Hochzeit zu Kana“, die sich jetzt in der Sakristei der Kirche Sta. Maria della Salute befindet. Eigentlich ist hier der lichtdurchflutete Saal mit seiner durch starke Längs- und Querbalken belebten Decke und seinen vielfach durchbrochenen Wänden die Hauptsache im Bilde, neben der die zahlreichen Figuren, selbst die groß gezeichneten Mägde im Vordergründe, fast bedeutungslos werden; sogar Christus sitzt winzig klein am äußersten Ende der langen Hochzeitstafel. Eine noch gewaltsamere, jäh in die Tiefe ziehende Perspektive beherrscht zwei in den nächsten Jahren entstehende Bilder zur Markuslegende (das eine in der Acca- demia in Venedig, das andere in der Mai länder Brera); sie sind zusammen mit dem vierten Markuswunder, der „Errettung des Sarazenen aus dem Schiffbruch“ (in der Accademia) die glänzendsten Zeugnisse für Tintorettos reifen manieristischen Stil vor seinen Werken in der Scuola di S. Rocco. Seit 1567 wird die Richtung in die Tiefe wieder auffällig eingeschränkt, und zu gleich mit der stärkeren Einordnung aller Personen in eine Ebene gewinnt auch der Kurvenreichtum, der schon in frühen Ge mälden eine bedeutende Rolle gespielt hatte, an Wohllaut und Großartigkeit. Diese Neubelebung der Fläche beginnt mit dem großen Bild der „Verehrung der Ma donna durch die drei Camerlenghi" in der Accademia, erreicht in dem gewichtlosen Schweben, das die Figuren einer „Kreuzi gung“ von 1568 in der Kirche S. Cassiano inVenedig miteinander magisch verknüpft, einen hohen Grad dekorativer Schönheit und findet schließlich ihren Höhepunkt in einer Anzahl mythologischer und religiöser Gemälde, wie der „Versuchung des hl. An tonius“ in der Kirche S. Trovaso in Vene dig, den „Neun Musen“ in Hamptoncourt, der „Entstehung der Milchstraße“ in Lon don und in den vier 1577-1578 gemalten allegorisch-mythologischen Bildern zur Verherrlichung Venedigs, die sich heute im Anticollegio des Dogenpalastes befinden. Wir müssen uns in der Wiedergabe und Beschreibung auf eines dieser Gemälde, auf „Merkur und die drei Grazien“, be schränken, das wie die anderen drei Tafeln im Anticollegio 1,50 x1,60 m mißt. Auf den ersten Blick mag man keinen großen Unterschied gegenüber der üblichen vene zianischen Mythologienmalerei feststellen können, man denkt an die schönen Frauen gestalten Tizians, die selige Verträumtheit Giorgiones und die üppigen Formen bei Palma Vecchio und entdeckt von all dem etwas in dem Gemälde Tintorettos. So Jacopo Tintoretto: Kampf des hl. Georg mit dem Drachen. London, National Gallery