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Michelangelo da Caravaggio: Ruhe auf der Flucht. Rom, Galleria Doria-Pamphili Meister von der jungen Generation, auch in Spanien, Frank reich, den Niederlanden und Deutschland, oft kopiert und in unzähligen Abwandlungen nachgeahmt worden. Caravaggios erstes Szenenbild mit ganzen Figuren, etwa 1594/95 gemalt, ist die hier abgebildete, ikonographisch ganz neuartig gestaltete „Ruhe auf der Flucht“ in der Galleria Doria-Pamphili in Rom. Es ist neben dem wahrscheinlich un gefähr gleichzeitigen Halbfigurenbild „Opferung Isaaks“ in den Uffizien das einzige Gemälde, in dem der Meister auf Landschaftsschilderung nicht ganz verzichtet hat. Die engen Zusammenhänge mit dem Manierismus sind hier nicht zu übersehen. Echt manieristisch ist die Erhebung einer Neben figur, des geigenden Engels, zur beherrschenden Figur des Bil des. Diese in der Mitte des Vordergrundes in hellster Beleuch tung aufragende Gestalt, die uns - auch das ist bezeichnend für den Stil - den Rücken zukehrt, verdeckt überdies Teile der beiden eigentlichen Hauptpersonen, der Madonna und des Nährvaters Joseph, die, stillebenhaft und unbewegt, tiefer in das Bild gesetzt und der Engelfigur zuliebe weit ausein andergerückt werden. Ganz manieristisch ist auch das willkür liche, nur dekorative Eigenleben einiger Gewandteile, vor allem der aufflatternden weißen Schärpe, der das ausgreifende Unterkleid Josephs und der weit ausgebreitete Mantelstoff Marias antworten. Aber in der Darstellung der einzelnen Figuren steckt manche köstliche Naturbeobachtung, deren der weltflüchtige Manierismus nicht fähig war: wie Maria, dem Einschlummern nahe, den Kopf auf die Seite gelegt hat, wie Joseph andächtig und beflissen das Notenheft hält und gegen die aufsteigende abendliche Kühle die großen Zehen seiner groben, bloßen Füße aufeinandersetzt, damit sie sich gegenseitig erwärmen, und wie aus dem Schattendunkel das ernste Gesicht des Esels hervorlugt. Die neue weltzugewandte Gesinnung spricht sich aber vor allem in der wundervollen Durchmodellierung des von scharfem Seitenlicht getroffenen Engelkörpers aus, ein neuer Schönheitssinn, der an dem zarten Oberflächenschimmer einer jugendfrischen Haut Gefallen findet und dieser Freuße, die einer wichtigen Entdeckung gleichkommt, auch Ausdruck zu geben weiß. Zahlreichen Künstlern hat dieser Akt als Vorbild gedient. Seit etwa 1597/98 erhält Caravaggio kirchliche Aufträge, zunächst auf drei Matthäus-Bilder für die Cappella Contarelli in der Kirche S. Luigi dei Francesi in Rom. Das mittlere Bild mit der „Inspiration des Heiligen“ zeigte einen groben Fuhrknecht, der mit übergeschlagenen Beinen auf einem schö nen Sessel sitzt und sich mit sorgendurchfurchter Stirn ratlos über ein Buch beugt, das er mit der Linken ungeschickt auf den Knien festhält, während die ungefüge Rechte krampfhaft versucht, eine Feder zum Schreiben zu be nutzen. Ein etwas lausbubenhafter Engel mit großen Schwanenflügeln steht neben ihm und führt ihm die Hand, die das Evangelium niederschreibt. Als der Künstler das Bild in der Kirche aufstellt, entfernen es die Priester vor Entsetzen über den so überaus kraß und unwürdig geschilderten Heiligen, über seine groben Hände, die nackten Beine und die rücksichtslos zur Schau gestellten plumpen, ja unsauberen Füße. Ein dem Maler wohlge sinnter Kunstfreund greift vermittelnd ein und erwirbt das Bild für seine Sammlung, aus der es später in das Berliner Museum gelangt ist. Cara vaggio aber malt für die Kirche eine neue Fassung, in der er den Heili gen veredelt und den Vorgang vergeistigt, jedoch auch auf naturalistische Einzelheiten nicht verzichtet. Wichtig ist, daß in diesem Gemälde das „Existenzbild“ (wie man die in Oberitalien beliebte Schilderung ruhigen, stillebenhaften Daseins benennt) zugunsten einer stärkeren Bewegung auf gegeben ist. Schon die nächsten Bilder zeigen ein Weiterschreiten auf dieser Bahn. Die „Berufung des hl. Matthäus“ läßt Caravaggio in einem keller artigen Raum vor sich gehen, in den durch hochgelegene, unsichtbare Fenster ein karges, aber scharf geführtes und einzelne Teile grell hervor hebendes Licht auf eine kleine um den Schenkentisch versammelte Soldaten gruppe fällt. Mit ausgreifender Geste holt sich der hinzutretende Christus seinen Jünger aus dieser Schar von Männern heraus, denen ein Wechsler ge rade Geld aufzählt. Die Gruppe am Tisch, wie eine Alltagsszene realistisch geschildert, wurde ebenso wie die Halbfigurenbilder von übelwollenden Kritikern als simple Giorgione-Nachahmung verspottet, während die jünge ren Künstler die ganz neuartige Auffassung und Gestaltung der dramatisch zugespitzten Genreszene und die aufregend malerische Beleuchtung aufs höchste bewunderten und zum Vorbild für zahlreiche sittenbildliche Dar stellungen nahmen. Ebenso maßgeblich wird für Hunderte von Heiligen bildern des Barock das dritte Matthäus-Bild Caravaggios, auf dem das „Martyrium des Heiligen“ in einer wilden, leidenschaftlichen Szene mit er schreckt auseinanderstiebenden Menschen, dem niedergestürzten Heiligen, dem fast nackten, grell beleuchteten Mordgesellen und dem aus Wolken niederfahrenden Engel geschildert ist. Jede weitere Arbeit des jungen Revo lutionärs führt weiter ab vom Renaissance-Ideal des ruhigen Gleichmaßes und vom manieristischen Ideal dekorativer Bildfüllung. Mit schonungs loser Deutlichkeit werden nervenaufpeitschende Szenen dargestellt, bei spielsweise wie der ungläubige Thomas seinen Finger in die Seitenwunde Christi bohrt und wie sich die Blicke dreier Männer mit wissenschaftlicher Gründlichkeit auf die schaurige Untersuchung konzentrieren (Potsdam, Neues Palais) oder wie das Kreuz mit dem aufgenagelten Petrus aufgerich tet wird (Rom, Sta. Maria del Popolo). Selbst aus einem visionären Vorgang wie der „Bekehrung des hl. Paulus“ schaltet Caravaggio das Übernatürliche der Erscheinung Christi aus und macht aus ihm einen gewöhnlichen, aller dings schreckenvollen, dramatischen und gespenstisch beleuchteten Sturz vom Pferde. Es ist eines der viel bewunderten Nachtstücke, in denen der Meister unter Verzicht auf alle entbehrlichen Zugaben den höchsten Grad packender Unmittelbarkeit erreicht. Durch rücksichtslose Vereinfachung und kühnen Naturalismus zeichnet sich auch die „Madonna von Loreto“ (um 1604/05; heute in der römischen Kirche S. Agostino) aus; sie wurde daher ebenfalls von den Bestellern zurückgewiesen, vor allem wohl, weil der vor der Madonna kniende Pilger dem Betrachter ungebührlich sein großes Hinterteil und seine schmutzigen nackten Füße entgegenstreckt. Der hier verwirklichte Gedanke des Evangeliums, daß Christus gekommen sei, den Mühseligen und Beladenen zu helfen, war den maßgebenden Kirchenkreisen offenbar zuwider. Über dem Abscheu vor den naturalistischen Einzelheiten