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VORWORT VOM WESEN DES BAROCK E S gibt im Ablauf des europäischen Kunstgeschehens einen uns nach seinen Gesetzen noch nicht völlig durchschaubaren Wechsel von reichen und von armen Epochen oder Jahrhunderten. Angesehen auf seine Fruchtbarkeit hin ist das Zeitalter des Barock, dessen Hochblüte im Jahrhundert des Dreißigjährigen Krieges liegt, das 17. Jahrhundert die reichste Erntezeit für die bildenden Künste gewesen. Eine solche Konstellation wie diese, wo fünf Kulturvölker Europas in Baukunst, Bildnerei und Malerei entweder ihr Größtes überhaupt leisten, wie Spanier, Niederländer und Franzosen, oder, wenn nicht dies, so doch altem Reichtum noch neue überraschende Besitztümer in verschwenderischer Fülle hinzufügen, so wie es die Deutschen und Italiener mit der Baukunst und den ihr dienenden anderen Künsten machten - ein solches Zusammentreffen geistig schöpferischer Kräfte von allen Seiten her war der Welt bis dahin unbekannt gewesen. Gotische Baukunst war in einem Europa, das den Begriff von Nationalstaaten kaum erst ahnte, eine wesentlich zwischen Frankreich und Deutschland sich abspielende Verrechnung gewesen. Und Hochrenaissance ist etwas Italienisches. In den späten Jahrzehnten des Hochrenaissance-Jahrhunderts aber und besonders im darauffolgenden 17. Jahr hundert erlebt die Welt zugleich mit dem Heraufkommen der Nationalstaaten, hochmütig und feindlich gegeneinander abge schlossener Nationalstaaten sogar, einen internationalen Weltstil von allgemein europäischer Bedeutung: Den Barock. Einen Stil von derart ausgesprochen gesamteuropäischem internationalen Gepräge, daß gegen ihn weder eine kirchliche, etwa protestantische Einrede noch irgendwelche bürgerliche, etwa holländische Sonderart etwas Belangvolles bedeutet. Vermeer van Delft gehört genau so zum Gesamtbilde des Barock wie der Frankfurter Adam Elsheimer, der auf den ersten Blick so aussieht wie ein deutscher Roman tiker um 1820. Und ohne Poussin, den Ruhigen, wäre die Lebenskraft des Barock ebenso verkümmert wie ohne Rubens mit seinen rauschenden Wirbeln von Formen und Farben. Im 17. Jahrhundert haben über die fünf oder - wenn man Belgien als von Holland geschieden ansehen will - sechs europäischen Kulturländer hin Zeitgenossen nebeneinander gelebt, die als Einzelpersönlichkeiten in der Kunst als so große und grundsätzliche Widersacher erscheinen wie der römische Baumeister Borromini, der jeden rechten Winkel und jede scharfe Kante als Todsünde ansah, und der französische Architekt Perrault, der die eine klassizistische Säulen schauseite des Louvreschlosses in Paris errichtete. Aber als Kinder des Barock gehören sie doch ebensosehr in ein und denselben Strom von Kunstwollen, wie, trotz aller Verschiedenheiten, Rembrandt und Velazquez. Zwischen den Entstehungsjahren der „Nachtwache“ und der „Übergabe von Breda“ liegt kein volles Jahrzehnt. Die traumgesponnenen Lüfte von Rembrandts Wundern in Licht und Farbe aber brauchen ebensosehr die barocke Voraussetzung wie der scheinbar so handfeste Freilicht-Realismus des spanischen Hofmalers. Ein reicheres Jahrhundert kann es gar nicht geben. Es wäre beruhigend, die sprachliche Herkunft des Wortes Barock zu kennen. Daß in einigen romanischen Sprachen barocco oder barucca „schiefrunde Perle“, im Portugiesischen „verucca“ Warze heißt, daß eine Baracke windschief ist und daß einer der ersten italienischen Maler des sogenannten Manierismus tatsächlich den Familiennamen Barocci führte, also als eine Art von Begründer des Barock könnte angesehen werden, - dies alles ist ebenso halbrichtig, wie die Tatsache, daß das Barockzeitalter die Hochblüte des Perrückentragens (parucca) war und, da klassizistische Zeiten auch sonst einmal einen vorhergegangenen und nun nicht mehr gewünschten Kunst- und Lebensstil nach einer Haartracht, Zopfstil benannten, „Barock“ also mit Begriffen wie pomphaft und theatralisch zu tun haben könnte. Aber darüber, wie etwa der Bildhauer und Baumeister Bernini oder wie van Dyck über das Wesen des Barock dachten, erfahren wir aus solchen Bruchstücken der Sprachgeschichte garnichts. Wir wissen nur, daß das Wort Barock, bei seinem ersten Aufkommen verächtlich oder herabsetzend gemeint war, so, wie einstmals das Wort Gotik oder später der Aus druck Impressionismus. Was barock aber wirklich ist, müssen wir, da Scheltworte sterblich sind, den Erzeugnissen dieses inter nationalen Weltstiles selber abfragen. Bei Kunstäußerungen von sechs verschiedenen Völkern aus mindestens anderthalb Jahr hunderten wird die Antwort so vielsprachig lauten, daß man sich bei der Charakterisierung mit der Beschreibung nur sehr allge meiner Wesenszüge wird bescheiden müssen. Barock ist Widerspruch und Aufbegehren, im Sinne des Geistes und der Seele nicht minder, als im Sinne der Form. Als im kirch lichen Leben Europas der Katholizismus, jahrzehntelang in die Verteidigung gedrängt, mit der Gegenreformation zum Gegen angriff gegen das Luthertum vorging, schuf er sich nicht eine unbedingt neue Sprache der Kunst im Bauen, Meißeln und Malen, son dern er fand eine Kunst vor, die ihrerseits gegen die höchsten Höhen der Überlieferung, gegen die erst eben gefundenen Prägungen des Klassischen Sturm lief. Man wollte Raffael, das heißt man wollte Ruhe und Harmonie, Frieden und Gleichgewicht der Seele nicht mehr. Und der alte Michelangelo wollte den frühen Michelangelo nicht mehr. Es kam eine Kunst, die den Menschen die Freude