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Menschen oder einzelnen Heiligen, die versonnen oder verzückt hinauf blicken, die Arme ausbreitend niedersinken oder ihre Erleuchtung andern mitteilen. Barocci hat das Motiv oftmals behandelt. In seiner „Rosenkranz- Madonna“ von 1588-1591 in der Kirche S. Rocco in Sinigaglia empfängt der hl. Franziskus die göttliche Offenbarung durch die leibhafte Erscheinung der Gottesmutter, in der „Seligen Michelina" von 1606 (Vatikan) hat die fromme Jungfrau auf nachtdunklem freien Felde ihre Vision. In dem Uffizien-Bilde befinden wir uns auf einem von Palästen umgebenen Marktplatz, auf dem sich eine große Menge Volks eingefunden hat. In der Mitte der Ansamm- sechziger Jahren die „Madonna mit Heiligen“ in der Accademia, die „Fin dung des kleinen Moses“ im Prado, die „Verlobung der hl. Katharina“ aus der Kirche Sta. Caterina in Venedig (jetzt in der Accademia), die „Marter der hl. Afra“ in Sta. Afra in Brescia und aus densiebziger Jahren die groß artigen Allegorien an der Decke des Collegio im Dogenpalast (1576-1577), sowie den hier abgebildeten „Raub der Europa“ (2,40 X 3,03 m) im Anti- collegio, dem gleichen Raum des Do genpalastes, der Tintorettos vier my thologische Bilder (vgl. S. 10/11) be wahrt. Die phönizische Prinzessin Eu ropa hat sich auf dem Rücken des prachtvollen weißen Stieres, in den sich Zeus verwandelt hat, niederge lassen. Er küßt ihr zahm und zart den Fuß - köstlich sein demutvolles Ge sicht -, während die Freundinnen ihr behilflich sind und den Stier mit Blu menkränzen schmücken, die von an mutigen schwebenden Amoretten her abgeworfen werden. Die Szene ist im Vordergrund der einen Bildhälfte dar gestellt, aufder anderenSeite aber trabt der Stier mit der Prinzessin gemäch lich dem Meere zu, in dem er zum dritten Male erscheint, und zwar wie er mit seinem Raub dem anderen Meeresufer, der europäischen Küste, zuschwimmt. Der ganze Hintergrund ist unwirklich gegeben und wirkt wie ein gemalter Theaterprospekt, vor dem sich die Vorbereitung der Entführung abspielt. Die Bildfläche ist bis an die Kanten beinahe gewaltsam ausgefüllt. Unruhig bauschen sich die Gewänder, flattern die Amoretten und bewegen sich die Zweige der Bäume, deren Stämme nirgends glatt aufsteigen, son dern in ihrer Silhouette durch Borken oder sprießende Seitentriebe unter brochen werden. Der Meister hat das Motiv, bei dem er den ganzen Reich tum seiner Farbenkunst und all seine Grazie spielen lassen konnte, mit Schülerhilfe noch mehrmals wiederholt. - Aus den achtziger Jahren seien noch die vier mythologischen Darstellungen aus dem Fondaco dei Tedeschi, dem Haus der deutschen Kaufleute in Vene dig, erwähnt, die das Berliner Museum besitzt, und vor allem die grandiosen Deckengemälde der Sala di Gran Gonsiglio im Dogenpalast. In dem großen Deckenbild „Triumph der Venezia“ wandelt sich die Grazie, die noch ein zelne Figuren zeigen, durch eine ins Ungemessene gesteigerte Wucht der Bewegung kraftstrotzender Körper zwischen gewaltigen und überladenen Bauteilen zu einem prunkvollen Barock. Aber dieser Vorstoß in den neuen Stil bleibt ohne Nachfolge, denn Venedigs Kunst erlischt für lange Zeit nach dem Hinscheiden der großen Meister Tintorett© und Paolo Veronese. 17. Jahrhundert vertreten, die der Ver herrlichung der göttlichen Gnade gewidmet sind. Vielfach abgewandelt erscheint auf diesen zahlreichen Bildern die Madonna oder Christus den lung der Massen im Bilde, das durch die Diagonale der Figurenanordnung in zwei Hälften geschnitten wird. Vor allem die gelbgekleidete, sich verhül lende Frau ist eine reine Dekorationsfigur, die nicht aus innerer Notwen digkeit an dieser Stelle steht, sondern nur aus bildgesetzlichen Gründen. Am glücklichsten ist Paolo Veronese in den szenischen Darstellungen, in denen schön geputzte und reich gekleidete Frauen eine Rolle spielen. Wir nennen aus den fünfziger Jahren die „Marter der hl. Justina“ in den Uffi zien, die „Vision der hl. Helena“ in der Londoner National Gallery, aus den - ,, • , , , Trrr . gleich jene unübersehbar große Bilder- Federigo Barocci: Mana als Fürsprecherin der Armen und Kinder. Florenz, Ujfizien g ri1 pp P nalienischer Malerei im iffund FEDERIGO BAROCCI (1526 oder 1535- 1612). Aus einer verzweigten lombardischen Künstlerfamilie stammend, wurde Federigo Barocci (oder Baroccio) als Sohn eines Bildhauers in Urbino, Raffaels Vaterstadt, geboren. Sein Geburtsjahr wird in alten Berichten verschieden angegeben; das Jahr 1535 erscheint glaubwürdiger als das frühere Datum. Durch seine Lehrer in der Heimatstadt und im nahen Pesaro auf Michelangelo und Raffael hin gewiesen, kommt er wohl schon in jungen Jahren nach Rom, wo er die Werke der großen Renaissancemeister studieren kann. In den bald darauf in Urbino gemalten Bildern bekundet er aber auch eine gute Kenntnis der Werke Correggios, die er schon da mals in Parma gesehen haben muß. 1560-1563 ist er in Rom an der Aus malung des Kasinos Pius’ IV. in den vatikanischen Gärten beteiligt, muß aber angeblich infolge einer Vergiftung durch neidische Mitarbeiter die Tätig- keit unterbrechen und kehrt nach Ur bino zurück, in dessen Abgeschieden heit er langsam zu einem der großen Meister des italienischen Manierismus heranreift. Er arbeitet für die Kirchen seiner Heimatstadt, erhält aber auch zahlreiche Aufträge auf Altarbilder für auswärtige Gotteshäuser, wie für Perugia, Arezzo, Sinigaglia, Pesaro, Ravenna, malt auf Bestellung des Do gen von Genua 1596 eine „Kreuzi gung“ für den dortigen Dom, eben falls in den neunziger Jahren mehrere Werke für den Mailänder Dom und für römische Kirchen. Vergeblich be mühen sich um ihn als Hofmaler König Philipp II. von Spanien, dem der Her zog von Urbino ein Gemälde Baroccis von 1584 geschenkt hatte („Berufung der Apostel Andreas und Paulus“, heute in Brüssel) und Kaiser Rudolf 11., der ein Bild „Brand von Troja“ be stellt hatte, wohl das heute in der Gal- leria Borghese in Rom befindliche Ge mälde, das neben wenigen Bildnissen die einzige nichtreligiöse Darstellung des Künstlers ist. Das große, 1579 für die Kirche in Arezzo gemalte, jetzt in den Uffizien bewahrte Gemälde „Maria als Für sprecherin der Armen und Kinder“ (3,59X 2,52 m), italienisch „Madonna del popolo“, die Volksmadonna, ge nannt, zeigt Baroccis künstlerische Auf fassung, die Wandlungen kaum unter worfen war. Das Bild soll hier zu-