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Eduard Hanslick (1825-1904) war über viele Jahre sowohl hoch geschätzter als auch stark gefürchteter Musikkritiker in Wien und Autor des oft miß verstandenen Buches .Vom Musikalisch- Schönen" („Der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen“). Er fühlte sich dem Wiener Klassizismus und der Romantik ver bunden, damit zu Brahms hingezogen und lehnte Wagners und in dessen Gefolge schließ lich auch Bruckners Schaffen ab, allerdings erst, nachdem Bruckner sich durch seine 3. Sinfonie nachhaltig zu einer tiefen Vereh rung Wagners bekannt hatte. älter als dreißig, als er seine monatlichen Fahr ten nach Wien aufnahm, um bei Sechter zu stu dieren! Später vervollkommnete er sich noch unter Anleitung des Linzer Kapellmeisters Otto Kitzler. Mit einundvierzig begann er seine erste Sinfonie - obwohl Sechter ihn längst einen „ge borenen Meister“ genannt hatte. Doch sein Minderwertigkeitskomplex - ein Begriff, der erst später erfunden wurde - hinderte ihn, sich je mals in Wien wahrhaft einzugewöhnen oder gar wohl zu fühlen. Aber es fehlte nicht an Aner kennung, denn dem ein wenig linkischen, scheuen Mann wurde mit der Zeit angeboten, höhere Posten einzunehmen: Orgel- und Kontrapunktprofessor, Hofkapellorganist, Kom positionslehrer. Richard Wagner wurde zum Leitstern seines Schaffens. Im wagnerfeindlichen Wien bedeute te dies einen schweren Stand. Boshafte Angriffe blieben nicht aus. Hinzu kam die natürliche Feindschaft der Brahms-Hanslick-Gruppe. Was Hanslick Bruckner vorzu werfen hatte, war musi kalisch fundiert: „Wagnersche Orchestereffek te, wie das Tremolo der geteilten Violinen in höchster Lage, Harfen-Arpeggien über dump fen Posaunenakkorden, dazu noch die neueste Errungenschaft der Siegfried-Tuben“. Kurt Pahlen formulierte das so: „Bruckner hatte die se Mittel gewählt, um sich ausdrücken zu kön nen, um die Überfülle der Bilder, die in seiner Seele lebten, in Musik zu verwandeln. So gerie ten ihm seine Werke romantischer als etwa die seines Zeitgenossen Brahms, und vielleicht we niger formstreng. Hanslick meinte auch, in Bruckners Sinfonien bestünde ein .unvermittel tes Nebeneinander von trockener kontrapunkti- scher Schulweisheit und maßloser Exaltation'. Die .maßlose Exaltation' ist vorhanden, wenn auch vielleicht nicht in dem von Hanslick ge meinten negativen Sinne; es ist die Exaltation eines Gottgläubigen, eines Mystikers, eines Menschen mit überreichem Innenleben, der sich