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groß ist der Ausdrucksraum beispielsweise zwischen dem leitmotivisch wiederkehrenden, klagenden „Oh Leide", dem „Weh"-Auf- schrei, dem sanften Abgesang des „Blume"- Motivs einerseits und dem grell schmettern den Fernorchester mit Harfe, Bläsern, Pauken und Schlagwerk im dritten Teil, das die lär mende Hochzeitsgesellschaft des Brudermör ders charakterisiert, wohl auch die Rohheit seiner Seele deutet. Die Solisten (der Bariton ist nur im Waldmärchen besetzt) und der Chor tragen den Balladen-Text teils episch schil dernd, teils anteilnehmend kommentierend in durchkomponierter Form vor. Arien, Ensembles und große Chorgesänge fehlen. Das Orche ster erreicht nicht nur mit Vor- und Zwischen spielen Eigenständigkeit, es musiziert das Ge schehen auf seine Weise, wobei das dichte Netz von Leitmotiven, die auch in den Ge sangspartien auftauchen, den Hörer gleich sam musikalisch durch die Geschichte führt. Auch im Formalen zeichnet sich im „Klagen den Lied" demnach schon die sich bei Mah ler später so typisch prägende Verschmelzung von Vokalem und Instrumentalem, von Sze nischem und Sinfonischem ab. Die diesem Werk von Mahler zugeordnete Gattungsbe zeichnung „Kantate" dürfte sehr weit gefaßt sein. Gustav Mahler begann mit der Niederschrift des Textes zum „Klagenden Lied" 1878. Es HORST LAUBENTHAL Nach gründlichem Studium 1967 Debüt als Don Ottavio („Don Giovanni") beim Mozartfest in Würzburg; Engagement am Württembergischen Staats theater Stuttgart; 1970 u. a. Evangelist in Bachs Matthäus-Passion unter Karajan bei den Osterfestspielen in Salzburg und Debüt bei den Bayreuther Festspielen (Steuermann im „Fliegenden Hol länder") ; Partie des David auf einer Schallplatte (Deutsche Grammophon) mit den „Meister singern von Nürnberg" unter Eugen Jochum; 1972 „Entführung" in Glyndebourne ; 1976 Debüt an der Pariser Oper, 1979 an der Metropolitan Opera New York; ständiger Gast auch an der Wiener Staats oper, der Deutschen Oper Berlin, der Ham- burgischen Staatsoper war die Zeit seines Studiums in Wien, in der er sich mit seinem Studienfreund Hugo Wolf in feuriger Verehrung für Richard Wagner dessen bahnbrechenden Musikdramen aneig nete, meist vierhändig aufs Klavier polternd, dazu laut singend, was zwangsläufig zu stän digem Wohnungswechsel führte. Daneben mußten durch Stundengeben die Mittel für das Leben in der teuren Metropole aufge trieben werden. Ein Vertrag als Kapellmeister am kleinen Sommertheater von Bad Hall im Mai 1880 brachte zwar ein einigermaßen ge sichertes Einkommen, verzögerte aber weiter das Komponieren am „Klagenden Lied", so daß Mahler erst im November 1880 vom Ab schluß der Arbeit berichten konnte. Damals also begann schon der Zwiespalt in Mahlers Leben: die „Fron" der Theaterarbeit auf sich nehmen zu müssen und nur in den Sommer pausen, als „Ferienkomponist", schöpferisch tätig sein zu können. Freilich ist bei Mahler eines vom anderen nicht zu trennen, hat sich beides gegenseitig befruchtet. Der junge Musiker hoffte, mit seinem Opus 1 — frühere Werke wurden vernichtet oder blie ben unvollendet — den von der Wiener Ge sellschaft der Musikfreunde gestifteten, mit 600 Gulden dotierten Beethoven-Preis zu ge winnen. Doch die Jury, der Johannes Brahms und Eduard Hanslick angehörten, enttäuschte seine Hoffnungen. Ohne finanzielle Grundlage