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Unter Liszts Führung hatte sich eine »Fortschrittspar tei« in Opposition zu Ver tretern, die sich dem Stil der Wiener Klassik ver pflichtet fühlten (Mendels sohn, Schumann, Brahms), entwickelt und benannte sich seit 1859 »Neudeut sche Schule«. Man glaubte, eine »klassizistische Er starrung« überwinden zu müssen durch neue musi kalische Formen, um in der Musik die »dichterische Absicht« (Wagner) und die »poetische Idee« (Berlioz, Liszt) besser erkennen zu können (musikalisches Drama, Programmsinfonie, Sinfonische Dichtung). Nun hatte er genügend musikalisch-handwerklich ausprobiert, die Orchestersprache sogar bis in die entlegensten Winkel ausgereizt. Er war in Klang räume vorgestoßen, die dergestalt vor ihm undenk bar erschienen und konnte in Klangfarben malen, die bisher noch nicht gehört worden waren. Sein eigenes harmonisches Verständnis hatte er auf ein Niveau gebracht, das kein Komponist vor ihm so weit getrieben hatte. Seit er mit seiner Tondichtung »Don Juan« (1888/89) das Publikum gewaltig schockiert hatte und sich wegen der für die dama ligen Verhältnisse hart klingenden Tonspracbe als »Neutöner« beschimpfen lassen musste, war er gleichsam zu einem Avantgardisten geworden, zu einem, der Türen in eine andere Welt aufriss. Und das hing ihm lange Zeit an, bis über die Jahrhun dertwende hinweg und bis andere Komponisten neuere Töne und noch härtere Harmonien erfan den. Strauss selbst blieb aber dann bei dem bisher Erreichten stehen und galt bereits als konservativ, noch bevor Arnold Schönberg, der Erfinder der Zwölf-Ton-Musik, sein wirklich neuartiges Tonsys tem bekannt machte. Doch das schmälerte keines wegs die Erfolge von Richard Strauss, im Gegen teil, seine Opern fanden großen Zuspruch, und die meisten gehören noch heute zum festen Repertoire der größeren Häuser. Die ersten Erfolge aber betrafen - wie gesagt - sei ne Orchesterwerke. Wie aber kam der junge Kom ponist dazu, solche groß angelegte Klangbilder, mu sikalische Tongemälde zu schaffen und tönende Geschichten zu erzählen? Sicher, es gab genügend Vorbilder, Berlioz z.B., vor allem aber das Gedan kengut der so genannten »Neudeutschen Schule«, wie sie Franz Liszt vertreten hatte. Das galt für die bereits entwickelte Programmsinfonie und für das musikalische Drama, betraf also Formen, die einem Musikwerk außermusikalische Ideen zugrunde le gen und diese mit kompositorischen Mitteln aus malen und schildern. Aber Strauss, in seinem aus gesprochenen dramatischen und dramaturgischen