Volltext Seite (XML)
denen der Einzelne das volle Vertrauen zu dem ihm entgegentretenden Objektiven, zu der Gemeinschaft hatte, der er zugehörte. Aber wir erkennen auch, daß unsre Eigenart das Ergebnis vom Zusammenwirken geschichtlicher Faktoren ist. Ja, wie ist es dazu gekommen? Daß die Reformation die weltverklärende Seite an der christlichen Sittlichkeit zum Bewußtsein gebracht und verstehen gelehrt hat, wurde schon berührt. Und es steht fest, daß unsre gegenwärtige christlich-sittliche Denkweise eine Ausprägung und Auswirkung dieser der Welt durch die Reformation geschenkten Erkenntnis ist. Was aber die Reformation an sittlicher Wahrheits erkenntnis umschloß, war so inhaltvoll und reich, daß sie sich natür lich nicht auf einmal nach allen Seiten hin zu entfalten, nicht alle ihre Folgerungen zu ziehen vermochte. Es handelte sich damals zunächst um die große grundlegende Hauptsache. Aber was uns Gott an geistigen und geistlichen Gaben mitgeteilt hat, das bringt die Erfahrung des Lebens zur Entfaltung. Die Menschen, mit denen wir zu thun, die Aufgaben, die wir zu lösen, die Anfechtungen, die wir zu bestehen haben, alle die Lagen und Verhältnisse, in die wir kommen, müssen uns dazu behilflich sein; sie sind unsre Erzieher. Nicht anders ist es im Großen auch. Und wir haben eine mehr hundertjährige Geschichte hinter uns, in deren Erbe wir einge treten sind. Es war nicht die Reformation, die zuerst die Überzeugung von der sittlichen Berechtigung des Diesseits und von dem Werte des individuellen Seins angeregt hat; sie war schon der treibende Gedanke der Renaissance. Aber erst die Reformation hat diesen Stimmungen und Richtungen des Denkens und Wollens das göttliche Recht und den wahren Halt gegeben. Und wenn man die innere Geschichte der neueren Zeit verfolgt, so kann man sie wohl eine Geschichte der immer tieferen und volleren Erfassung und Beherrschung der Welt nennen. Daß diese aber mit der Auswirkung individueller Freiheit und Begabung auf das engste zusammenhängt, braucht eben nur bemerkt zu werden. Die christliche Ethik ist dieser Entwicklung nachgegangen und hat davon zu lernen gehabt. Daß sich dabei auch manche Anschauungen wandeln mußten, lag in der Sache. Wie anders dachte doch Luther z. B. über das Zinsnehmen und