Luther sagt einmal: „So wir Christum haben und bewahren ihn, alsdann taugen wir bald Gesetz zu machen und alles recht zu richten; ja, da werden wir gar neue zehn Gebote machen, wie Paulus solches treibet in allen Briefen und Petrus, insonderheit aber Christus im Evangelium.* Ein Wort von überraschender Kühnheit und von wunderbarer Tiefe, aber ein echtes Lutherwort; und die Geschichte des Christentums ist die thatsächliche Erläuterung dazu. Sie zeigt uns, wie oft die Gemeinde und der Einzelne in ihr veranlaßt waren, neuen Anforderungen und Verhältnissen gegenüber das im Geiste Christi richtige Verhalten zu bestimmen, ohne daß ihr für den Fall ein ausdrückliches Wort von ihm oder eine apostolische Weisung gegeben war. Das Christentum ist eben nicht mit einer von Anfang an in allen Stücken fertigen und abgeschlossenen Sittenlehre in die Welt getreten, es hat vielmehr ihre allseitige Ausgestaltung und Durchführung der Geschichte überlassen; und sie ist daher auch zu keiner Zeit zu einem endgiltigen Abschluß gekommen, sie ist immer im Werden. Aber wenn Luther mit Recht nur den aus dem Geiste Christi geborenen neuen Geboten Giltigkeit zuerkennt, so zeigt uns die Geschichte, daß die christliche Sittlichkeit sich nicht einfach aus diesem einen beherrschenden Grundprinzip allseitig entfaltet, nicht allein nach diesem ihr immanenten Gesetz ihres Wesens sich aus gewachsen hat. Sie ist geschichtlich geworden, ist in den Gang der Geschichte verflochten, nimmt bestimmend und bestimmt an ihren 1