Volltext Seite (XML)
Wi rthschaftspol itische Tagesfragen.* Im Reichstage sowohl wie im Landtage haben wir eine ganze Reihe von Erörterungen über die sogenannten agrarischen Zölle erlebt. Alle diese Erörterungen wurden hervorgerufen von jener Seite, welche das Princip des Schutzes der natio nalen Arbeit verneint. Im Abgeordnetenhause war es der Etat der landwirthschaftlichen Ver waltung, bei welchem naturgemäfs die Lage der Landwirthschaft in Betracht gezogen werden mufste, im Reichstage neben dem Etat der in- directen Steuern und Zölle insbesondere der von den Socialdemokralen gestellte und allein von den Freihändlern der bürgerlichen Demokratie unterstützte Antrag, die Getreidezölle sofort auf- zuheben, wobei sich der freihändlerische Ansturm entfaltete. Bei allen diesen Debatten wurde das Gebiet der industriellen Schutzzölle kaum gestreift, ja sogar augenscheinlich sorgsamst vermieden. Es hatte den Anschein, als ob die freihänd lerische Beredsamkeit einzig und allein gegen die Agrarier zürne; im Grunde war nur von der »Schädlichkeit« der Getreidezölle die Rede, worauf dann natürlich die andere Seite deren Noth Wendigkeit demonstrirte. Man würde sich jedoch sehr täuschen, wenn man sich einbilden wollte, die freihändlerischen Wünsche wären einzig und allein auf Abschaffung oder Herabsetzung der Getreidezölle gerichtet, weil man nur von diesen zu sprechen und diese anzugreifen für angezeigt hielt. Vielmehr glauben unsere Freihändler in den Kornzöllen nur die Achillesferse des Zolltarifs entdeckt zu haben, eine schwache Stelle, an welcher man einsetzen kann, um den ganzen Tarif und damit das Princip des Schutzes der nationalen Arbeit über den Haufen zu werfen. Die Umstände scheinen ein solches Unter nehmen zu begünstigen. Westeuropa hat in den Hauptbrotfrüchten eine wesentlich hinter dem Durchschnitt zurückbleibende Ernte gemacht. Zwar kann das Deficit der westeuropäischen Crescenz mehr wie überreichlich aus dem russi schen, nordamerikanischen und indischen Ueber- scbufs gedeckt werden. Es lag also auf dem Weltmärkte kaum ein durchschlagender Grund für eine erhebliche Preissteigerung vor. Trotzdem erfolgte eine solche unmittelbar nach der Ernte, und zwar, wie sich mit ziemlicher Sicherheit feststellen läfst, weil die internationale Getreide- * Ohne in allen Einzelheiten mit dem Verfasser übereinzustimmen, haben wir dennoch dem nach folgenden Artikel die Aufnahme nicht versagen wollen, weil er viele beachtenswerthe Gesichtspunkte enthält. Wegen Raummangels konnte der Artikel im März- Heft keine Aufnahme mehr finden. Die Red, speculation die Vorräthe in den Vereinigten Staaten blokirte und so die Preise forcirte. Hand in Hand damit fand ein Anziehen der Brotpreise statt, und Herr Bebel hat dem Reichstage eine Privat statistik unterbreitet, welche die Vertheuerung des Brotes durch die Getreidezölle beweisen soll, thatsächlich aber nur ein Anziehen der Brot preise infolge des Steigens der Getreidepreise seit Juli v. J. beweist, weil die jetzt gellenden Ge treidezölle seit dem 26. November 1887 in Kraft stehen, also seit sieben Monaten vor dem Termin, an welchem die Bebelsche Enquete einsetzte. Uns soll fern liegen, hier die Preisbewegungen des Getreidemarktes auf ihre Berechtigung unter suchen oder in dem Streit, ob die Getreidezölle oder andere Factoren die bemerkbare Brotpreis erhöhung hervorgerufen haben, Partei ergreifen zu wollen. Aber, wie schon gesagt, die Umstände scheinen eine freihändlerische Unternehmung gegen die Getreidezölle zu begünstigen, und da wir kaum noch ein Jahr von den nächsten Reichs tagswahlen entfernt sind, ist darauf zu rechnen, dafs man Alles thun wird, um dieselben von frei händlerischer Seite unter das Zeichen der Brot- vertheuerung zu stellen. Damit werden wir dann vermuthlich erleben, dafs die in ihren Mitteln meist wenig wählerische Wahlagitation schein bar gegen die agrarischen Zölle, in Wirklichkeit aber gegen die nationale Wirthschaftspolitik, sich richten wird. Man verführe dabei übrigens nach alten und früher oft bewährten Recepten. Der Freihandel hat Siege stets nur dann erfochten, wenn es ihm gelang, die verschiedenen Gruppen des Erwerbs lebens gegeneinander auszuspielen. Früher, in den fünfziger und sechziger Jahren, boten die Eisenzölle das Streitobject dar, an welchem man sich die industriellen und landwirthschaftlichen Interessen scheiden und erhitzen liefs; jetzt sollen die Getreidezölle demselben Zwecke dienen. Da aber, wie Herr Dr. Bamberger im Reichs tage kürzlich sehr schön sagte, man nicht so optimistisch sein darf, zu glauben, dafs „gute Vernunftgründe allein ausreichen, eine gute Sache zu vertheidigen“, dafs man also nicht auf die einer Sache innewohnende »gute Vernunft« sich verlassen darf, so wird man doch gut thun, auch von industrieller Seite diesen Vorgängen und Vor bereitungen Aufmerksamkeit zu schenken und nicht zu warten, bis die vom Freihandel agita torisch in die Interessenkreise eingestreute Saat der Zwietracht aufgegangen sein wird und an fängt, Früchte zu tragen; — dann dürfte es zu spät sein, Schaden zu verhüten, der zunächst darin bestehen würde, dafs der nächste Reichstag