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538 Nr. 7. STAHL UND EISEN.* Juli 1889. Worte hat Heinrich v. Treitschke die selbe dahin gekennzeichnet, dafs das deutsche Volk mit sich ins Gewissen ging, mit un erbittlicher Schäl fe die Unterlassungssünden prüfte, die man auf sich geladen hatte, und den beunruhigenden Verhältnissen der arbeitenden Klassen eine höhere Aufmerksamkeit schenkte, als es bis dahin geschehen war. Alle hatten sich der Unterlassungssünde schuldig gemacht, der Staat und die Gesellschaft, die Gesammt- heit und die Einzelnen. Eingelullt durch die Sirenentöne der öden, herzlosen Manchester lehre, hatte man sich, um mit einem berühmten Worte zu sprechen, der Arbeiter bislang fast nur dann erinnert, wenn es galt, Rekruten auszuheben und sie zu Steuerleistungen heran zuziehen, aufser dem Erlafs des Haftpflicht gesetzes und den dürftigen Arbeiterschutz- Vorschriften hatte man zum Besten der Arbeiter noch fast nichts gethan.“ Zunächst müssen wir bemerken, dafs dieser Vorwurf in seiner Allgemeinheit völlig ungerecht fertigt ist, wenigstens für die Berg- und Hütten werke nicht zutrifft. Erstere besafsen in ihren Knappschaftskassen alte, bewährte Einrichtungen, * welche in Krankheits- und Todesfällen, für Arbeits unfähige, Wittwen und Waisen reichlich sorgten. Der im Jahre 1817 mit 729 Mitgliedern ge gründete Saarbrücker Knappschaftsverein umfafste 1888 eine Mitgliederzahl von 26 118 Bergleuten und besafs ein Vermögen von rund 4450 000 JI. Verausgabt wurden in dem genannten Jahre 1 354288. für Invaliden, 613 648 JI für Wittwen und 20 3 3 6 7 36 für Waisen, zusammen 2171 303 JI, »eine Summe, vor der man den Hut abnehmen darf«, sagtwörtlich die »Köln. Zeitung«, der vorstehende Zahlen entnommen sind. Auf Kosten des Staates werden 16 Kleinkinderbewahranstalten, 13 In dustrieschulen für Mädchen und 20 Werksschulen für jugendliche Arbeiter mit einem Aufwande von 52 000 Jh unterhalten. 5043 Bergmanns häuser sind seit dem Jahre 1842 gebaut worden, wofür der Grund sehr billig abgegeben, aufserdem ein freies Geschenk von 900 36 und ein un verzinsliches, in 10 jährigen Lohnabzügen zu tilgendes Darlehn von 1500 •6 gewährt worden. Andere Wohlthätigkeitseinrichtungen lassen wir unerwähnt. Für den Ruhrbezirk bestehen 3 Knappschafts vereine, in Bochum, Essen und Mülheim a. d.Ruhr. Der in Bochum ansässige Märkische Knappschafts verein schlofs 1888 seinen Voranschlag in Ein nahme und Ausgabe mit 5 115 000 •16 ab; davon fallen auf Invaliden, Wittwen und Waisen fast 31/2 Millionen, auf Krankenpflege 1 250 000 JI, der Rest auf Verwaltung und Rücklage. Bergleute und Werksbesitzer tragen je zur Hälfte bei. Ganze Dorfschaften schmucker, gesunder Wohnungen und zahlreiche sonstige Wohlfahrtseinrichtungen beweisen die Sorge der Zechen für ihre Arbeiter. Im Jahre 1877 bestanden in Preufsen 77 Kuapp- Schaftsvereine mit 351 109 Mitgliedern. Unterstützt wurden 30 162 Invaliden, 31163 Wittwen und 54 127 Waisen, Schulgelder gezahlt für 53 730 Kinder. Krankengeld erhielten 135 712 Kranke für 2 178 192 Tage. Die Einnahmen betrugen 21 097 000 J6, davon 10 367 423 Ji Beiträge der Arbeiter und 9 258 235 der Werkeigen thümer. Auf jedes ständige Mitglied fällt ein schuldenfreies Vermögen von 149,87 Ji. Die Leistungen von Fried. Krupp für seine Arbeiter sind ziffernmäfsig nicht bekannt, belaufen sich aber auf viele Millionen. Allein in der un mittelbaren Nähe von Essen besitzt die Firma 3250 gute, gesunde Familienwohnungen, in welchen ungefähr 16 000 Seelen leben. Der Bochumer Verein verausgabte in 10 Jahren für unmittelbare Wohlfahrtszwecke seiner Arbeiter an gesetzlichen und freiwilligen Leistungen 13/4 Millionen Mark, entsprechend 22,58 °/ 0 der im gleichen Zeitraum an die Actionäre ausgezahlten Dividenden. Die Opfer für mittelbare Wohlfahrts einrichtungen betragen seit dem Bestehen der Gesellschaft 2 870 000 Ji. Die Leistungen anderer Werke sind im Ver- i hältnifs kaum minder erheblich. Alles geschah zu einer Zeit, wo der Staatssocialismus noch . unbekannt und vielen Leuten, welche heute die neue Lehre von den Dächern laut verkünden, | das Loos der Arbeiter höchst gleichgültig war. Es mag dahingestellt bleiben, ob sich die social politische Gesetzgebung nicht besser an die schon bestehenden Einrichtungen hätte anlehnen können. Auch suchen wir die nachhaltige Trieb feder zum Vorgehen des Staates weniger in den Mordanschlägen gegen den verstorbenen Kaiser Wilhelm I., als vielmehr im allgemeinen, un beschränkten Wahlrecht. Das letztere hat die | Socialdemokratie grofsgezogen. Die Wahlschlachten sind die Tage ihrer stolzen Truppenschau. Manchen tröstet die Behauptung, dafs viele der für jene äufserste Partei Stimmenden keine wirklichen Socialdemokraten, sondern nur mit unseren Ge sellschaftszuständen Unzufriedene seien. Wenn man ohne jede Rücksicht auf Besitz und Bildung die Entscheidung über die wichtigsten Dinge der unvernünftigen, blinden Menge anheimstellt, so ist die Klage, ein grofser Theil der Wähler unter liege der Verführung, nutzlos und das Wahlrecht damit ohne weiteres als ein bedenkliches gekenn zeichnet. Nach der »Kölnischen Zeitung« hat unsere Zeit die Pflicht, „dem Arbeiter eine höhere Sicherheit gegen die Erwerbslosigkeit zu bieten“. Das sociale Recht soll „an die Stelle des starren römischen Rechts gesetzt werden und dem Wohlfahrtszweck der Platz ein geräumt werden, welcher ihm nach deutscher Auffassung gebührt“.