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STAHL UND EISEN/ Juli 1889. t i Ausstand wieder beginnen wolle. Dies offene e t wegung und veranlafste einen vollständigen Um schwung der öffentlichen Meinung. Die »Kölnische Zeitung« u n te rschätzt jeden falls die früheren Leistungen und überschätzt die heutigen. Sie sagt u. a.: „Die goldenen Worte der - Kaiserbotschaft haben ihre Wirkung ausgeübt; wenn wir jetzt so weit sind, dafs kein Gesetz mehr erlassen werden kann, ohne dafs man es vom socialen Standpunkt aus beurtheilt, ohne dafs man prüft, ob es den socialen Anforderungen Genüge leistet, so ist dies zum guten Theil die Wirkung der socialpolitischen Gesetzgebung, und das berühmte Wort des Reichskanzlers von der Salbung jedes Gesetzes mit socialem Oel ist kein leeres Wort geblieben, sondern ist in Fleisch und Blut übergegangen.“ Wir sind keine grundsätzlichen Feinde des Tabaks- und Branntweinmonopols, wagen aber doch nicht zu behaupten, dafs die darauf bezüg lichen Vorschläge des Staates »mit socialem Oel gesalbt« gewesen wären. Die dem Arbeiter drohende Vertheuerung der Pfeife Tabak und seines Schnäpsleins wurde von den Gegnern mit Erfolg ausgebeutet, ebenso wie die Erhöhung der Getreidezölle, so gerechtfertigt diese auch sein mag. Bei sämmtlichen Gesetzesvorlagen über unser Heer und unsere Flotte stehen mit Recht nationale und keineswegs sociale Rücksichten im Vordergrund, trotzdem die Mafsnahmen oft tief in das wirth- und gesellschaftliche Leben ein schneiden. Weiter heifst es: „Aber auch die Belebung der gemein nützigen Gesinnung, die rege Entfaltung werkthätiger Liebe zum Besten der arbeitenden Klassen, diese unsere Zeit ehrende und edelnde Gesinnung ist zum guten Theil auf diese Gesetz gebung zurückzuführen. Die Gesellschaft hat sich das Beispiel der Gesetzgebung zum Vorbild dienen lassen, sie ist durch sie an die socialen Pflichten erinnert worden, die ihr obliegen, sie hat die grofsen Anstrengungen, welche Staat und Gesetzgebung zur Hebung der Ar beiter machen, zum Anlafs genommen, auch ihrerseits die ganze Kraft aufzubieten, um das sociale Sphinxräthsel zu lösen.“ Wenn theoretische Leistungen in Wort und Schrift damit gemeint sind, dann können wii zustimmen, aber nicht bezüglich der Opfer an Geld und Gut. Die gröfsten Schöpfungen frei williger Wohlthätigkeit seitens der Werke gehören der Vergangenheit, der vorsocialen Zeil an, und gerade damit ist der Beweis geliefert, dafs wahre Menschenliebe des äufseren Anstofses nicht bedarf. Das frühere patriarchalische Verhältnifs zwischen Werk und Arbeiter wird verschwinden, die gesetz lichen Leistungen treten an Stelle der zwanglosen und schaffen allmählich naturgemäfs rein ge schäftliche Beziehungen zu einander. Jeder Theil weils, was er zu beanspruchen und zu leisten hat. 2 Mit diesen Grundsätzen kann sich die Social demokratie einverstanden erklären. Unsere heutigen gesellschaftlichen Zustände beruhen mehr oder minder auf dem römischen Erbrecht. Die Social demokraten dagegen erklären Mutter Erde als gemeinschaftliches Eigenthum der ganzen Mensch heit. Jeder soll mit arbeiten, aber auch mit geniefsen. Das starre römische Recht würde dann allerdings in seinen Grundfesten erschüttert und das neue sociale Recht die Gesellschaft in eine Productivgenossenschaft umwandeln, wie sie im kleinen ja schon versucht worden sind. Keinenfalls ist das die Absicht der Staats- socialisten, also unter allen Umständen eine deut lichere Erklärung über Ausgang und Tragweite ihrer Bestrebungen nöthig, um einerseits über triebenen Forderungen, andererseits unbegründeten Befürchtungen vorzubeugen. Die Socialdemokratie sieht in den bisherigen Leistungen lediglich eine gesetzliche Regelung der Armenpflege, welche früher den politischen und religiösen Gemeinden, sowie der Privatmildthätigkeit oblag, nunmehr aber auf einheitlichen, gesetzlichen Grundlagen fürs ganze Reich beruht. Diesen grofsen Fort schritt mufs jeder Unbefangene anerkennen, selbst wenn er die gewährten Unterstützungen als zu niedrig bemessen erachtet. An die Stelle von Almosen treten verbriefte Rechte der Gesammtheit. Aus den Andeutungen der »Köln. Zeitung« geht nicht hervor, wie weit der Staat in seiner Fürsorge gehen will. Sie hält ihn für verpflichtet: „im Nothfall in die wirthschaftlichen Verhält nisse ordnend und helfend einzugreifen, wesent lich zum Zweck, den Armen und Be drängten seinen Schutz gegenüber den Reichen und Starken angedeihen zu lassen“. Auch dagegen wird die Socialdemokratie nichts einzuwenden haben. Klagen über Allmacht und Mifsbrauch des Kapitals hallen aus jeder Windrichtung, nicht nur aus rothen und röth- liehen Blättern, sondern auch aus den Spalten der »Germania« und »Kreuzzeitung«. Der Reichs tagsabgeordnete Bebel spricht darüber kaum schlimmer als seine Gollegen v. Kleist-Retzow und Dr. Lieber. Wie aber die Mitglieder der äufsersten Rechten und des Gentrums dem Uebel abhelfen wollen, erfahren wir nicht, während die Socialisten vorschlagen, durch Aenderung des »starren römischen« Erbrechts die Anhäufung des Kapitals in einzelnen Händen zu hindern. Die Lehren der frommen Antikapitalisten wirken mindestens gleich gut wie die der echten Socialdemokraten. Der Vorsitzende der letzten Delegirtenversammlung in Bochum erklärte, ohne ernstlichen Widerspruch zu finden, »dem Kapital den Krieg bis aufs Messer« und nannte jeden Bergmann einen Schuft, der nicht den nutzlosen Geständnifs enthüllte die Gefährlichkeit der Be- VII.9 Nr. 7. 539