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4 "Kannst Du Dich dem allgemeinen Schicksal Deines Geschlechts entziehen, das nun einmal seiner Natur nach die zweite Stelle in der Reihe der Wesen bekleidet?" Eine Frage, die Heinrich von Kleist seiner Schwester 1799 stellt, nämlich am Ende eines Briefes, auf den ich in Folge besonders eingehen möchte, da er, als Resultat einer Diskussion zwischen den Geschwistern, Ulrike indirekt hörbar macht, Dieser Brief benennt gleichzeitig die von Heinrich von Kleist immer wieder gesuchte schöpferische Harmonie und die wie sich erweisen wird, unüberbrückbaren Gegensätze zwischen den Geschwistern, die nicht ohne gesellschaftliche Brisanz sind, damals nicht und nicht heute. Kurz zur Harmonie. Heinrich von Kleist bringt sie zu Beginn des Briefes aufs Wort: "Durch unsere vertraulichen Unterredungen, durch unsere Zweifel und Prüfungen, durch unsere freund lichen und freundschaftlichen Zwiste, deren Gegenstand nur allein die Wahrheit ist, der wir beide aufrichtig entgegenstreben und in welcher wir uns auch gewöhnlich beide vereinigen, durch alle diese Vorteile Deines Umganges scheidet sich das Falsche in meinen Grundsätzen und Entschlüssen immer mehr vom Wahren, das sie enthalten, und reinigen sich folglich immer mehr, und knüpfen sich immer inniger an meine Seele, und wurzeln immer tiefer, und werden immer mehr und mehr mein Eigentum." Heinrich von Kleist weiß also die Vorteile des Umgangs mit Ulrike durchaus zu schätzen, ja, er hat zu diesem Zeitf- punkt Frankfurt an der Oder als Studienort gewählt, um in der Nähe seiner Schwester zu sein. Die angedeuteten "Zweifel, Prüfungen und Zwiste", könnten Indiz dafür sein, daß Ulrike schon zu diesem Zeitpunkt eine streitbare, selbstständig denkende Frau war, die folglich eigene Vorstellungen über ihr Dasein als Frau entwickeln würde.