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- 9 - eine Emanzipierte der vornehmsten Art am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts." Zurückhaltender, doch nicht weniger wohlwollend, äußert sich Christa Wolf in "Kein Ort. Nirgens": "Sie verbirgt ihn? den Unwillen nicht, den er verdient, als er jenes oft bewährte Stückchen zum besten gibt, in dessen Mittelpunkt Ulrike steht: Wie sie in Paris, wo niemand sonst sie in ihren Männerkleidern als Frau erkannt, von einem blinden Musiker, dem sie über sein Spiel ein Kompliment gemacht, mit Madame angesprochen wird und danach fluchtartig den Saal verlassen muß. Die Günderode lacht nicht. Selten ist sie neidisch, jetzt ist sie's. Ihre Schwester möchte ich kennen." Daß Ulrike von Kleist einen eher praktischen Verstand besaß, daß sie Dinge tat, die nach Meinung ihres Bruders- "eines Mannes würdig" waren, daß sie in Männerkleidern durch Europa reiste, ändert nichts an der Tatsache, daß sie als Frau dachte und empfand. Ein Porträt zeigt sie eher hausbacken, denn maskulin. In seinen Hilferufen £ wendet sich Heinrich von Kleist immer an "Die Frau" in der Schwester, Sie hat getan, "was in den Kräften eines Menschen stand", nicht nur um den Bruder zu retten, sondern um sich selbst aus einer unverschuldeten, weil überlieferten Abhängigkeit zu befreien. Daß sie es allein versuchte, ist tragisch. Glücksumstand ist, daß wir davon wissen, daß wir Wertungen kennen, erfahren können, wie sie sich verändern, daß wir Prozesse fest machen können. So bin ich an Marx erinnert, wenn ich Ulrikes Bemühen zur Kenntnis nehme, "Die Frau" in sich zu unterdrücken, um den "Menschen" in sich zu entdecken: "Der gesellschaftliche Fortschritt läßt sich exakt messen an der gesellschaftlichen Stellung des schönen Geschlechts..." (Marx/Engels, Werke, Bd.J2)