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2 Eure Exzellenz ist nur zu sehr daran interessiert, daß Gerechtigkeit walte, als daß ich noch andere Erwägungen zu denjenigen füge, die in Ihrer edel mütigen Seele ganz und gar vorherrscht." Eine Einfügung ist es, die den Ton des Briefes ändert: "Ihrer edelmütigen Seele", sie schafft einen diplomatischen Ton, sie erzeugt Partnerschaft, ohne, daß die Schreiberin in den Verdacht gerät, sich zu unterwerfen. Dabei, so glaube ich, war sich Ulrike durchaus bewust, und das von der ersten Zeile des Briefes an, daß sie sich zu unterwerfen hat - das tat sie aber in dem Bewustsein, auf das Wesentliche mit Nachdruck hingewiesen zu haben: "Wenn Eure Exzellenz die öffentliche Meinung befragt, wird sie leicht erfahren können, daß mein Bruder in der literarischen Welt- Deutschlands nicht ohne Namen und Ansehen ist und daß er einiger Anteilnahme wert ist; aber Eure Exzellenz würden auch dem unbekanntesten Menschen Gerechtigkeit widerfahren lassen, und so wäre diese Erkundigung überflüssig, und Sie wird diese Bemerkung der Liebe einer bekümmerten Schwester zugute halten, die durch den Verlust des Bruders das Geliebteste auf der Welt .verloren hat. .. " Bis in die heutige Zeit hinein ist Ulrike von Kleist mit Vorurteilen belastet, dergestalt, daß sie sich als Hauptbezugsperson ihres Bruders, an dessen Selbstmord mit schuldig gemacht haben könnte. An fertigen Urteilen über sie, sehen wir uns die zu ver schiedenen Zeiten geschriebenen Biographien an, fehlt es nicht, dabei existieren beinahe ausschließlich anekdotische, kaum faktische Belege. Einziger Beleg von Ulrikes Hand ist der eben zitierte Brief, der den meisten Kleist-Biographen sicher bekannt war und ist und der dennoch in Biographien kaum eine Rolle spielt. Die Hauptquelle zur Entstehung eines Ulrike-Bildes in den Biographien ist das vom Bruder hinterlassene Briefwerk, das Wertungen bereits vorgibt und, das ist ein Phänomen, folgt der Biograph diesen Wertungen, gerät er in direkten Widerspruch zu Ulrikes einziger Hinterlassenschaft, diesem Brief.