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267 Favori. «Fortsetzung.) 4 Wie sich der Sonne Scheinbild in dem Dunstkreis Malt, eh' sie kommt, so schreiten auch den großen Geschicken ihre Geister schon voran. Und in dem Heute wandelt schon das Morgen. Schiller. Am 9. Mai des Jahres 1812 verließ Napoleon die Tuilerien; nach seiner Abreise verfiel das Volk von Paris in eine Art von dumpfer Betäubung. So viel ist gewiß, daß für diejenigen, denen die Nolks- stimme Gottcsstimmc, Gott damals laut sprach; aber diese Stimme wurde von dem Manne überhört, der seinen eignen Willen für den Willen des Schicksals hielt und seinen Genius für seinen Schicksals-Stern! Anfangs diente alles seinen Plänen; von Paris bis Dresden hatten sich die Könige, sei es aus Furcht, sei es aus Hoffnung — aus seiner Bahn versammelt, um seine Triumphe zu schmücken. Am 23. Juni erreichte die große Armee, 560,000 Mann stark, den Nicmen. Unter dem begünstigen den Mantel der Nacht stieg Napoleon zu Pferd, um sich dem Ufer zu nähern; sein Pferd strauchelte und siel. Auf dem jenseitigen Ufer des Flusses zeigte sich ein einfacher Kosackenofsizier, der eine Patrouille be fehligte. Auf unserer Seite erschien Europa in Waf fen. Einige Sappeurs erhielten Befehl, auf einer Barke über den Niemen zu setzen. Als sie aus dem andern Ufer ankamen, rief ihnen der Kosacken- ofsizicr zu: „Wer seid Ihr?" „Franzosen," antworteten sie. „Weshalb kommt Ihr nach Rußland?" „Um Euch den Krieg zu bringen." Der Kosackenofsizier zog sich zurück, als die Fran zosen ihre Waffen gegen ihn entblößten, und ver schwand mit seiner Patrouille im Gehölz. So wurde dieser vcrhängnißvolle dunkle Krieg erklärt! Der Kaiser hatte mit seiner Armee kaum den Niemen passirt, als der Tag sich verfinsterte, der Sturm sich erhob und man in der Ferne das Rollen des Donners hörte. Mehre Stunden hindurch war die Armee von dem Feuer des Himmels und den Fluthen des Stromes bedroht gewesen. Einige Tage nachher sprach Peter zu seinem Herrn: „Beim Teufel, mein Herr Eapitän, das sind keine guten Vorzeichen! Wenn ich der Kaiser wäre, so würde mir schon der Fall vom Pferde, und dann das Gewitter eine Warnung gewesen sein, den Niemen zu passiren. Ich kehrte wieder um." „Behalte Deine Gedanken für Dich!" entgegnete der Eapitän ernst. „Möge Furcht nicht Deinen Math verringern im Augenblicke der Gefahr! Du glaubst an Gott, wie ein ächter Bretagner, der Du bist, — das ist gut; aber Du glaubst nicht genug an Deinen Kaiser, und das ist übel." Eines Abends, als das Regiment an einem Ge hölz bivouakirte, sprach Peter, indem er das Stroh lager für sich und seinen Offizier zurecht machte: „Ich habe Favori den Ersten beklagt, aber er ist jetzt glücklicher, als Favori der Zweite, der mit dem Wechsel seiner Lage nicht eben zufrieden zu sein braucht." Der Eapitän liebkoste das schöne Roß. „Nun, es bleibt sich gleich," fügte der Soldat hinzu, durch das Stillschweigen seines Herrn dreist gemacht, „ich möchte wohl wissen, wozu wir eigent lich diesen Krieg führten; bis jetzt haben wir uns noch mit keiner Seele schlagen können." „Wir führen diesen Krieg gegen die Engländer, mein armer Peter," versetzte lächelnd der Eapitän. „Zweifelst Du daran? Können wir sie nicht aus ihrer Insel angreifen und sie mit den Waffen in der Hand bewältigen, so greifen wir sie an dem ver wundbarsten Theil ihrer Eristenz, an ihrem Handel, an. Schon hat der Kaiser, um den Schacher der Engländer zu verhindern, die Könige und Völker, die er besiegt, für sein System gewonnen; aber dieses System erheischt eine einhellige Uebereinkunst unter allen Mächten; noch hat Rußland seine Pforten dem britischen Handel offen gelassen — sieh, und deshalb müssen wir die Russen bekämpfen. Ver stehst Du?" „Alles, was ich verstehe, ist, daß ich die Eng länder hasse und daß ich mich gern gegen sie schlagen möchte!" Nach diesen Worten schlief Peter ein, und der Eapitän streckte sich auf das Stroh nieder, das ihm zur Lagerstätte dienen sollte und das er mit Favori theilte. Aber die innere Unruhe verscheuchte den Schlaf von ihm. Vom Niemen bis zur Vilia ließ die Armee nur verwüstete Häuser, zerbrochene Wagen auf ihrem Wege zurück. Zehntausend Pferde waren in Folge