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zelnen Menschen und die Kulturentwickelung der gesamten Menschheit fast eine noch größere Bedeutung als der des Gesichtes. Der Blinde hat, trotz größerer Abhängigkeit von anderen beim Durchmessen des Raumes, doch vor dem Gehörlosen den großen Vorteil voraus, daß er geistige Kenntnisse, Begriffe, Gedanken, Urteile aufnimmt. Körper liche Gefühle sind daher die Beweggründe des Handelns bei dem halbgebildeten Taubstummen, während geistiges Nachdenken und Fühlen den Blinden dazu anregt. Man sieht dies schon daraus, daß die gesellschaftliche Stellung des Tauben eine unglücklichere ist als jene des Blinden. Selbst erworbene Taubheit macht den Menschen, weil sie gemütsrohen Personen leider nicht selten mehr ein Gegenstand des heimlichen Spottes als des Bedauerns ist, mürrisch und arg wöhnisch. Der Taubstumme und Schwerhörige beobachtet darum seine Umgebung mißtrauisch und ist in der Regel hitzigen und störrischen Gemütes; nur gegen Leidensgefährten wird er mitteilsam. Den Blinden dagegen kränkt niemand; mit ihm empfindet im Gegenteil jedermann Mitleid, er erfährt immer nur Teilnahme und Liebe und ist darum meist ruhigerer und glücklicherer Gemütsstimmung, sonst müßte er ja auch verzweifeln. Unser Gehörsinn wird zu jeder Zeit und von allen Seiten erregt; für ihn giebt es eigentlich keine Zeit der Ruhe. Wir können unser Gehör der Außenwelt nicht verschließen. Es umflutet uns unaus gesetzt ein Meer von Geräuschen und Klängen; selbst im Schlafe dauert dieser Einfluß der Außenwelt auf unfern Geist noch an, und Gehörseindrücke sind es, die uns wieder erwecken. Die Zahl der möglichen Zusammensetzungen dieser auf unser Ohr einwirkenden Ge räusche, Klänge und Töne in ihren verschiedenen Zusammensetzungen, Klangfarben und Stärken ist unermeßlich (beträgt doch die Zahl der für das menschliche Ohr unterscheidbaren einfachen Töne schon über 10000), so daß die Gesichtseindrücke dagegen in Bezug auf Zahl, Zeitdauer und Raum beschränkt erscheinen. Das Gesichtsfeld unseres Auges ist räumlich sehr begrenzt, und im Finstern verliert der Gesichts sinn seine Bedeutung. - Während dem Ohre die Außenwelt sich ohne sein Zuthun aufdrängt, muß das Auge die Gegenstände seiner Be trachtung erst aufsuchen. Ja das Ohr macht das Auge auf die zu beobachtenden Erscheinungen erst aufmerksam; ohne seine Unterstützung würde dem Auge vieles, ja oft das Wesentliche daran entgehen. Das sieht man schon an dem äußeren Verhalten des Gehörlosen; da sein Ohr den Wächterdienst nicht verrichten kann, so muß das Auge dafür eintreten, es kann sich deshalb nicht mit Ruhe einer Beobachtung hingeben; unruhig, ja mißtrauisch schweift es hin und her, damit ihm ja nichts, besonders keine drohende Gefahr, entgehen möge. Es muß auch das Harmlose, Ungefährliche immer wieder beobachten, da es ihm nicht vom Ohre als solches gekennzeichnet wurde. Die Nachrichten, welche das Ohr dem Geiste zuführt, sind so