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»Aber das ist doch nicht möglich", schrie fie auf. .Sie müssen sich irren, liebe Frau. Sie verwechseln meinen Sohn mit einem anderen — oder Ihre Tochter hat Sie belogen. Mein Sohn ist noch viel zu jung." .Meine Tochter lügt nicht", sagte Frau Sommer finster. .Auch ich habe beide selbst wiederholt zusammen gesehen! Sie ist seinetwegen von uns fort und hat sich <in eigenes Zimmer gemietet. Und jetzt" — fie sagte es ganz leise, als ob fie sich schämte, es auszusprechen —, .nun steht meine Tochter vor der Schande. Gestern hat fie es mir gestanden." AgneS Rast war wie zerschmettert. Sie rang nach Lust, auf ihrer Brust ruhte ein ganzer Berg. Dann brach ein wildes Schluchzen von den Lippen der fassungslosen Mutter Hanns Rasts. Frau Sommer stand bei diesem Ausbruch des Schmerzes schüchtern in der Ecke und wagte kaum zu atmen. Ihr war unheimlich zumute; fie bereute, gekommen zu sein. Endlich trocknete sich Agnes Rast die Tränen ab. Sie sagte hart — ihre Stimme Vang, als sei innerlich etwas zerbrochen: .Gehen Sie nach Hause, Frau Sommer? Ihrer Tochter soll Recht werden — verlassen Sie sich aus mich!" Mit einer ungeschickten Verbeugung entfernte sich die Frau. Sie wagte nicht mehr zu sprechen. Als fie gegangen war, starrte Agnes Rast noch eine Weile wie geistes abwesend auf die Tür; dann faßt« fie plötzlich nach dem laut klopfende», schwachen Herzen und fiel mit einem leisen Schrei zu Boden. Als Hanns, nachts gegen -Wölf Uhr nach Hause kam, fand er zu seiner Ueberraschung die Mutter noch auf. Sie trat ihm an der Tür entgegen und zog den Liebling in ihr Zimmer. Hanns sah ein verweintes, verhärmtes Gesicht und ahnte Schlimmes. Er wappnete sich und sah dem kommenden Sturm mit Gleichmut entgegen. Der Liebling kannte seine Mutter tausendmal besser als fie ihr Kind, und er wußte, wie er sie zu behandeln hatte. .Kennst du Fräulein Sommer?" fragte die Mutter ernst, ohne ihrem Liebling den üblichen Kuß zu geben. „Gewiß!" sagte er ruhig. .Wir fitzen uns seit einer ganzen Reihe von Monaten täglich gegenüber." .Ihre Mutter war heute bei mir." „Nanu? Seit wann machen solche Leute Anstands besuche? Ist es eine nette, alte Dame? Ich hatte noch nicht das Vergnügen." .Daß du auch in diesem Augenblick spotten kannst, Hanns! Du weißt oder ahnst doch wenigstens, warum di« Frau hier war?" .Na, wenn du es denn hören willst, Liebes: Ich glaube, es zu wissen. Wegen ihrer Tochter?" . Agnes Rast sah Hanns entsetzt in die schönen Augen Sein Gleichmut, sein Zynismus war ihr unheimlich. Schließlich übermannte sie der Zorn, und in maßloser Heftigkeit überschüttete sie den Liebling mit Vorwürfen. Drohte, ihre Hand von ihm abzuziehen, ihn zu verstoßen. Die Mutter wußte in ihrer Erregung nicht mehr, was fie sprach. Sie dachte nur an das arme Mädchen. Blitzartig überkam Agnes Rast die Erinnerung an jene furchtbare Mittagsstunde des 1. März 1922. Sie hatte, ihres Lieblings wegen, den Konsul Lothar Roipei abgewiesen, obwohl sie den Mann liebte und ein neues Glück an seiner Seite heiß ersehnte. Dann sprach sie mit dem Kind, für das sie wenige Minuten vorher eines der schwersten Opfer ihres Lebens gebracht hatte. Noch ein mal durchlebte Agnes Raft die grauenvolle Empfindung, die sie in jener Stunde beherrschte: So wie ihr, mußte es der armen Margarete zumute gewesen sein, als sie Faust im Kerker die erschütternden Worte zurief: „Heinrich, mir graut vor dir!" In dieser Stunde graule der Mutter zum zweiten Male vor diesem Sind, das sie geboren, leider aber nicht erzogen, sondern verzogen hatte, und das damals vergnügt und lachend von einem Einbruch, einem schweren Diebstahl reden konnte, und das heute ebenso gleichmütig und gefühlsro^ über das von ihm verführte Mädchen sprach > ' -- - ------ - und rein Verständnis.für den Schmerz der armen Mutter des verführten Kindes zeigte. Damals hatte die ver- blendete Mutter visionär das Schicksal dieses Lieblings vor Augen gesehen: Abgeurteilt! Gebrandmartt! Mit dem Kainszeichen für ewig gezeichnet. Ausgestoßen von der menschlichen Gesellschaft. Heute sah Agnes Rast, wie das Schicksal sich mit un erbittlicher Folgerichtigkeit erfüllte. Es ließ nicht mit sich spielen. Nun überkam die schöne Frau ein Grauen vor dem Leben. Hanns sah, daß eL diesmal ernst war. Mit meister hafter Kunst spielte er den Reumütigen und Zerknirschten. Als er damit keinen Eindruck zu machen schien, drohte er mit Selbstmord. Da schrie Agnes Rast gellend auf! Fest hing sie dem Liebling am Hals, als wollte sie ihn nicht wieder lassen. Eine andere Erinnerung war lebendig geworden: an den grauenhaften Selbstmord Siegfried Lohrs. Die Mutter sah den einzigen Sohn mit zerschmetterten Gliedern auf dem Straßenpflaster liegen. Jammernd rief sie: „Hanns, schweig, um Gottes willen! Ich werde das Mädchen fortschicken; es soll Geld bekommen, so viel es braucht. Später will ich ihm eine Stellung verschaffen und für das das ich will für alles sorgen. Aber, nicht wahr, Hanns, du tust mir so etwas nie wieder an? Ich habe furchtbar gelitten." Hanns schien gerührt und weinte; echte bittere Tränen flössen auf die weißen Hände der Mutter. Er hing an ihrem Hals, küßte den Mund, die Augen, die Stirn, und versprach hoch und heilig, in Zukunft ein getreuer, muster hafter Sohn zu sein. Agnes Rast küßte ihren Liebling mit zuckenden Lippen und verzieh ihm. In der Nacht, die den Auseinandersetzungen Agnes Rasts mit Frau Sommer und ihrem Liebling folgte, sprang Irma Sommer von der Carolabrücke in die Elbe. Zwei Geheimnisse nahm sie für immer mit in ihr nasses Grab: Daß in der von ihr verwalteten Geschäftskasse drei- tausendvierhundert Mark fehlten, und daß sie das Geld für Hanns Rast gestohlen hatte! Theodor Exner war ein vornehmer Charakter. Er trug den Verlust still und sprach mit niemand darüber. Das zierliche kleine Mädel hatte seine Schuld gebüßt. Er wollte nicht noch mehr Schmutz auf ihren Namen und ihr ein sames Grab in Nieder-Wartha werfen. Wer wußte es, warum Irma Sommer zur Diebin geworden war? Der alte Herr Exner kannte das Leben, er kannte aber auch die gegenwärtige junge Generation. Sie war das Opfer des Weltkriegs. Wenn Agnes Rast ihrem Liebling auch verzieh, den Frieden fand sie nicht wieder. Es war, als hätte ihr Innerstes einen jähen Riß bekommen; ihr Heiligtum war nun endgültig entweiht. Hanns, für den sie alles geopfert hatte, für den allein sie auf der Welt war, seitdem er lebte, war wie alle anderen; schlimmer vielleicht noch. Wenn der einsam gewordenen Frau diese Gedanken kamen, dann schloß sie die Augen, als schmerzten sie oder als hoffte sie, damit die finsteren Gedanken abschütteln zu können, die sie Tag und Nacht verfolgten. Aengstlich beobachtete sie Hanns, verfolgte jeden seiner Schritte — doch Hanns gab ihr keinen Grund zum Tadel oder Arg wohn. Er blieb viel zu Hause und leistete der Mutter Gesellschaft. Allmählich redete Agnes Rast sich ein, daß Irma Sommer sein böser Dämon gewesen sei, daß Hanns unter ihrem unheilvollen Einfluß gestanden habe. Der Einfluß war entfernt, und nun war Hanns wieder ganz der alte. Er war der Hanns, wie sie ihn, von den wenigen, sehr bösen Ausnahmen abgesehen, immer gekannt hatte. Wie konnte es auch anders sein? War Hanns im großen und ganzen nicht stets ein musterhafter Sohn, ein folgsames Kind gewesen? Hatte die Mutter nicht fast immer Freud« an ihm gehabt? Die trüben Gedanken verschwanden allmählich, und Vgnrs Rast? Tlevszu yannS wurde vlellelchi^noch größer/ «als sie es bisher gewesen war. Es ist ein alter Erfahrungs- Isa-: Die ärgsten Sorgenkinder find den Müttern immer am stärksten ans Herz gewachsen! Hanns hielt sich einige Monate solid zu Hause auf, weil er seine Gründe dazu hatte. Einerseits wollte er der Mutter gefallen, um den schlechten Eindruck wieder zu ver wischen, andererseits hielt er es für geraten, dem Gerede der Menschen aus dem Wege zu gehen. Sein liederliches Treiben war stadtbekannt geworden. Sorgliche Mütter verboten ihren Heranwachsenden Söhnen und Töchtern bereits Hanns Rasts Umgang. Die Ge schichte mit der kleinen Sommer hatte sich herumgesprochem. Alles bedauerte das bescheidene junge Mädchen und warß die Schuld ganz allein auf Hanns. Er hatte manches Böse hören müssen; auch an seinen Chef waren anonyML Briefe gekommen. Der hatte ein ernstes Wort mit HannSi geredet und ihm sofortige Entlassung angedroht, sobald ihm noch eine Klage über sein moralisches Verhallen zu Ohren kommen sollte. Hanns Rast erhielt ebenfalls einen Brief. Er war aber nicht anonym. Als er die ungelenke, ihm unbekannte Handschrift auf dem Umschlag sah, wollte Hanns daS Schreiben erst ungelesen in den Papierkorb werfen. Ein unerklärliches Gefühl trieb ihn aber, den Brief immer wieder in die Hand zu nehmen, bis er den Umschlags schließlich aufriß und die wenigen Zeilen las: „Herrn Hanns Nast, Dresden, Kaitzer Straße 21L Sie haben meine arme, unschuldige Schwester in den Tod getrieben. Das soll Ihnen nicht vergessen werden. Für alles kommt eine Vergeltung. Auch für Ihr Ver brechen an meiner Schwester wird der Tag der Rache kommen. Dann werden Sie den Bruder der Toten auf Ihrem Wege des Vergnügens und schrankenlosen Ge nusses treffen. Richard Sommer." Als Hanns Nast diese so sonderbaren, etwas über schraubten Sätze gelesen hatte — man findet solchen Stil oft bei schlichten Menschen, die nur selten mit der Feder !in Berührung kommen —, hatte er ein unangenehmes Gefühl. Er konnte die Erinnerung an den Brief tagelang nicht loswerden. Aber schließlich vergaß der Liebling der «schönen Frau Agnes auch diesen Warnungsruf und seinen Schreiber, wie er die kleine, zierliche Irma Sommer längst vergessen hatte. Nach einigen Monaten fing Hanns das frühere Leben wieder an. Er kehrte erst spät in der Nacht heim und verbrauchte viel Geld. Die Mutter mußte es ihm liefern. Um Gründe war er nie verlegen. Agnes Rasts Stirn wurde wieder sorgenvoll. Die Zinsen ihres Vermögens erlaubten es schon längst nicht mehr, Hanns die verlangten, oft recht erheblichen Summen zu geben. Sie wagte es aber auch nicht, seine Bitten abzuschlagen, weil sie seine schlechte Laune und feine oft recht bitteren Bemerkungen fürchtete. Die Mutter wollte Hanns nur lachend, in sonniger Heiterkeit sehen. Wiederholt hatte sie das durch den Amsterdamer Bankkrach ohnehin schon stark zusammengeschmolzene Kapital angegriffen. Dadurch wurden die Zinsen immer noch weniger, und die Folge war, daß die Angriffe auf das Kapital sich mehrten. Den Gedanken an das „Später" wies Agnes Nast wie ein eigensinniges Kind ab, wenn er in verschwiegener Nacht auftauchte. Sie tröstete sich damit, daß ihres Lieblings Vermögen sicher angelegt war und vor seinem fünfundzwanzigsten Jahre nicht abgehoben werden konnte. Für ihn war also gesorgt, und sie selbst — nun, solange Agnes Nasts schwaches Herz noch schlug, würde das Kapital reichen. Daß sie durch ihr gedankenloses Handeln auch Hedwig «m ihr mütterliches Erbteil betrog, daran dachte sie nicht. Das wurde ihr erst viel später erschreckend zum Bewußt- Dein gebracht. Nur allzubald kam der ganz krasse Umschlag. Agnes IiMÜs^Hosfnuna_ arLdauerude_BelieruuL ihres_Lieblinas sank ins Bodenlose. Nach einigen Monaten war er ganz, wieder der alte. Rein, eS wurde viel schlimmer, den» Hanns verlor allmählich jeden Halt. Er verlor auch die bisher immer noch gewahrte äußer liche Rücksichtnahme auf die Mutter. Die Verhältnisse, dis der unselige Weltkrieg geschaffen hatte, waren Gift für ihn. Kaffeehäuser, Tanzdielen, Kinos und zweifelhafter- Vergnügungsstätten waren schon nachmittags um Vie» Uhr, als vor kaum einem Dutzend Jahren noch alles bei fleißiger Arbeit saß, stark überfüllt. Fast jede Woche tak sich ein neuer heimlicher Spielklub auf. Sportfeste jagte» sich. Die Arbeit wurde zur unangenehmen Unterbrechung ein»? fortlattfenben Kdtte von Vergnügungen. Hanns Nast schwamm mitten in diesem wilden Strom: Er geriet in immer schlechtere Gesellschaft. Stadtbekannt« äftere^WüstÜiitzjt, d« sich einstmals vom Kriegsdienst zu drücken verständen hatten, Trinker und Spieler wurde» seine Freunde. Nit ihnen und leichtsinnigen Mädchen) die der unselige Weltkrieg zu Hunderttausend«« geschaffen hatte und die ihre Vergnügungssucht noch immer in di« Großstädte wehte, verbrachte er seine Tage und Rächtet Agnes Rast wußte es, denn ihr waren schon längst diel Augen gründlich aufgegangen. Aber es war zu spät) Hanns noch, zu bessern. Wohl.verfuchte die Mutter zu weilen ihm ins Gewissen zu reden, aber er hatte keines Blick mehr für die Angst und Qual^der Frau, die ihn einst unter ihrem Herzen getragen hatte, und, die nun das Liebste, was st« besaß, dem Abgrund zutäumeln sah. Mil der entsetzlichen Selbsterkenntnis, daß es ihre eigen» Schuld sei! Dio Ernte dessen, was sie in bodenloser Ven blenduug gesät hatte! ; Die Mutter war für Hanns nur noch eine ergiebig«! Geldquelle, die ihm die Mittel zur Bestreitung seiner kost spieligen Neigungen liefern mußte. Mußte! Als fie eS ein einziges Mal wägte, sein Verlangest nach Geld schüchtern abzuschlagen, mit stummer, flehende Bitte um Verzeihung im Auge, da wurde Hayns, der nich ganz nüchtern war, so brutal und lärmend, das Agnei Nast fürchtete, er würde sie schlagen. An jenem Tag brach fie völlig zusammen. In schweigender Apathie lies sie alles gehen, was nicht mehr geändert werden konntH Eigenen Verdienst hatte Hanns nicht oft, er hielt es m keiner Stellung aus. Herr Exner hatte ihn schon vor lange« Zeit an die Lust gesetzt. Uebrigens nahm ihn auch kein» Geschäftsmann gern; wer es doch einmal mit ihm ver suchte, tat es aus Rücksicht auf seinen toten Vater, weit er mit diesem in angenehmer Geschäftsverbindung gv« standen hatte. Aus diesen Gründen stellte ihn Herr Arno Kummer schließlich als Buchhalter und Kassierer ein. Er versucht es nun schon den dritten Monat in unermüdlicher Geduld! mit Hanns. Herr Kummer, der vor dem Weltkrieg ein sehr gut* gehendes Getreide-Engrosgeschäft hatte, dann eines leitende Stelle im Dresdener Kriegsernährungsamt be^ kleidete, wandte sich nach dem furchtbaren Zusammenbruchs Deutschlands mit sehr großem Erfolg der Fabrikation kosmetischer Artikel zu. Der verstorbene Siegbert Nasts gab dem jungen Arno Kummer vor Jahren aus freien» Stücken die Mittel dazu, sich selbständig zu machen. Ihm» verdankte er indirekt seinen jetzigen Reichtum. ! Was Herr Kummer dem Vater nicht danken konnte^ wollte er an dem Sohn gutmachen. Er bemühte sichs daher, aus Hanns einen besseren, brauchbaren Mensche» zu bilden. Er versuchte, die guten Seiten in ihm zu» wecken, und hoffte auf seinen Ehrgeiz. Deshalb vertraut er Hanns eine ausgesprochene Vertrauensstellung i» seinem Fabrikgeschäft an. Leider sah Herr Kummer leinest Erfolg; er hatte dagegen durch die Liederlichkeit und» Bummelei des jungen Nast — er fehlte oft ganze Tag lang — häufig geschäftlichen Schaden. Am Abend des 31. Juli 1928, es hatte eben sieben Uhr geschlagen, stürzte Hanns aufgeregt und unerwartet zu seiner Mutter in ihr behagliches Wohnzimmer. Sie saß am Scbreibtisck» und schrieb eifria in ein kleines Buch