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26 der Musik bloß diese Zeitfolge eigen; bloß diese ist in ihr bestimmt. Die Reihe, welche sie darstcllt, nöthigt sehr wenig zu einer bestimmten Empfindung. ES ist gleichsam ein Thema, dem man unendlich viele Texte unterlegen kann. Was ihr also die Seele des Hörenden — in sofern derselbe nur überhaupt, und gleichsam der Gattung nach, in einer ver wandten Stimmung ist — wirklich unterlegt, entspringt völlig frei und ungebunden aus ihrer eigenen Fülle; und so umfaßt sie es unstreitig wärmer, als was ihr gegeben wird, und was oft mehr beschäftigt, wahr genommen als empfunden zu werden. Andere Eigenthümlichkeiten und Vorzüge der Musik, z. B. saß sie, da sie aus natürlichen Gegenständen Töne hervorlockt, der Natur weit näher bleibt, als die Malerei, Plastik und Dichtkunst: übergehe ich hier, da eS mir nicht darauf ankömmt, eigentlich sie und ihre Natur zu prüfen, sondern ich sie nur als ein Bei spiel brauche, um an ihr die verschiedene Natur der sinnlichen Empfin dungen deutlicher darzustellen. Die eben geschilderte Art zu wirken ist nun nicht der Musik allein eigen. Kant bemerkt eben sie als möglich bei einer wechselnden Farben mischung; und in noch höherem Grade ist sie es bei dem, was wir durch das Gefühl empfinden. Selbst bei dem Geschmack ist sie unverkennbar. Auch im Geschmack ist ein Steigen des Wohlgefallens, das sich gleichsam nach einer Auflösung sehnt, und nach der gefundenen Auflösung in schwächer» Vibrationen nach und nach verschwindet. Am dunkelsten dürfte dies bei dem Geruch sein. — Wie nun im empfindenden Menschen der Gang der Empfindung, ihr Grad, ihr wechselndes Steigen und Fallen, ihre (wenn ich mich so ausdrücken darf) reine und volle Harmonie das Anziehendste, und anziehender ist als der Stoff selbst, in sofern man nämlich vergißt, daß die Natur des Stoffes vorzüglich den Grad, und noch mehr die Harmonie jenes Ganges bestimmt; und wie der empfin dende Mensch — gleichsam das Bild des blüthetreibenden Frühlings — gerade das interessanteste Schauspiel ist: so sucht auch der Mensch gleich sam dies Bild seiner Empfindung, mehr als irgend etwas Anderes, in allen schönen Künsten. So macht die Malerei, selbst die Plastik, es sich eigen. Das Auge der Guido-Renischcn Madonna hält sich gleichsam nicht in den Schranken Eines flüchtigen Augenblicks. Die angespannte Muskel des Borghesischen Fechters verkündet den Stoß, den es zu voll führen bereit ist. Und in noch höherem Grade benutzt dies die Dicht kunst. Ohne hier eigentlich von dem Range der schönen Künste reden zu wollen, sei es mir erlaubt, nur noch folgendes hinzuzusetzen, um meine Idee deutlich zu machen. Die schönen Künste bringen eine doppelte Wirkung hervor, welche man immer bei jeder vereint, aber auch bei jeder in sehr verschiedener Mischung antrifft: sie geben unmittelbar Ideen, oder regen die Empfindung auf; stimmen den Ton der Seele, oder (wenn der Ausdruck nicht zu gekünstelt scheint) bereichern oder erhöhen mehr ihre Kraft. Je mehr nun die eine Wirkung die andere zu Hülie nimmt, desto mehr schwächt sie ihren eignen Eindruck. Die Dichtkunst vereinigt am meisten und vollständigsten beide; und darum ist dieselbe auf der einen Seite die vollkommenste aller schönen Künste, aber aut der andern Seite auch die schwächste. Indem sie den Gegenstand weniger lebhaft darstellt, als die Malerei und die Plastik, spricht sie die Empfindung weniger ein- dringend an, als der Gesang und die Musik. Allein, freilich vergißt