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WMein-LlMM TiMiltt. Amtsblatt. Nr. 173. Sonntag, den 29. Juli 1900. 1. Vellage. Politische Wochenschau. Die chinesische Frage ist in ein kritisches Stadium getreten, über das sie nicht so schnell hinweg gebracht werden dürfte. Die mit allen Hunden gehetzte chinesische Diplomatie hat es nicht nur fertig gebracht, die Mächte in vollkommener Ungewißheit über das zu lassen, was sich in Peking ereignet hat, sondern sie hat es auch durch allerlei heimtückische Trics ver standen, Meinungsverschiedenheiten und Mißtrauen unter den Mächten hervorzurufen und dadurch die gemeinsame Aktion ins Stocken zu bringen. Thatsächlich wissen wir heute über die Vor gänge in Peking nicht mehr als zu Anfang des Monats. Am 6. oder 7. Juli, nach anderen Meldungen am 9. oder 10. Juli, sollte sich das furchtbare Blutbad in Peking abgespielt haben. Seit dem sind die Nachrichten über dieses Blutbad von chinesischer Seite in bunter Reihenfolge dementirt, gebracht und wieder dementirt worden, sodaß wir uns heute in nicht minder vollkommener Ungewißheit über das Schicksal der Europäer und der Gesandten in Peking befinden als vor drei Wochen. Aber auch die militärische Lage hat sich seit- dem sür die Mächte wenig gebessert, die diplomatische Lage aber eher verschlechtert. Zwar ist es den Truppen der Verbündeten gelungen, sich Tientsins zu bemächtigen und die Chinesen auch aus der Umgegend von Tientsin zu vertreiben. Aber abgesehen hiervon sind wesentliche Erfolge nirgends erzielt worden und die Erhebung hat unterdeß mächtig um sich gegriffen. An einen Vorstoß auf Peking ist noch nicht zu denken, denn es wird noch geraume Zeit dauern, bis die Verbündeten stark genug sind, um eine entscheidende Offensive zu wagen. "Noch ungünstiger als die militärische Lage aber stellt sich die politisch-diplomatische Situation dar. Von der vielgerühmlen Einigkeit dec Mächte, die allseits in so schwungvoller Weise betont worden war, ist nichts, rein garnichts mehr zu erblicken. Weder über die Person eines gemeinsamen Ober- kommandirenden, noch über ein Verbot der Waffen ausfuhr nach China konnte bisher eine Einigung er zielt werden. Die internationalen Differenzen haben die Kriegsführung in Tientsin wesentlich gelähmt und der Streit darum, wer die Controle der über Tientsin hinaus führenden Eisenbahn übernehmen soll, hat zu tiefgehenden Differenzen zwischen einem Theil der Mächte geführt. Zwar ist der Streit zu Gunsten Rußlands entschieden worden, aber die Engländer und die Amerikaner haben diese Entscheidung nicht friedlich freundlich hingenommen, sondern zeigen nicht übel Lust, sich allgemach in den Schmollwinkel zurückzuziehen. Auf dem besten Wege hierzu sind besonders die Vereinigten Staaten von Amerika. Während die Vermittlungsgesuche, welche die führenden Männer in Peking unter der Firma des Kaisers von China an die einzelnen Mächte lichteten, um aus diesem Wege die Mächte zu entzweien, seitens Deutschlands, Frankreich und sogar auch Japans eine mehr oder minder entschiedene Ab lehnung erfuhren, wobei sich besonders die deutsche Regierung durch eine rückhaltslose und nicht miß verständliche Sprache auszelchnete, haben es die Ver einigten Staaten von Amerika für richtig befunden, den Chinesen nicht nur den kleinen Finger, sondern die ganze Hand entgegenzustrecken. Von Amerika aus hat man bereits unzweideutig zu verstehen gegeben, daß man ein scharfes Vorgehen gegen die Chinesen nicht mitmachen werde und sich in der Hauptsache darauf zu beschränken beabsichtige, die eigenen Interessen in China wahrzunehmen. Somit scheinen wir bereits auf dem Punkt angelangt zu sein, wo die Einigkeit der Mächte ein Loch erhält. Im übrigen würde frei lich ein Ausscheiden der Vereinigten Staaten von Amerika aus der gemeinsamen Aktion der Mächte die Situation keineswegs wesentlich verschlechtern, denn auf thatkräftige Hilfe von Seiten dieser Macht hat man ohnehin nicht ernsthaft gerechnet. Daß auch die Engländer nur mit halber Seele bei der Sache sind, hat seine guten Gründe. In England giebt man sich keinem Zweifel darüber hin, daß das Ende der Aktion ein weiteres Zurück weichen des englischen Einflusses vor dem russischen sein wird und daß England in China mehr zu ver lieren als zu gewinnen hat. Dazu kommt, daß das südafrikanische Gespenst sich trotz aller offiziösen Ver sicherungen noch nicht bannen laßt. Wenn man die Ereignisse auf dem südafrikanischen Kriegs schauplatz nicht durch die englisch-offiziöse Brille betrachtet, dann kann man unschwer erkennen, daß die Lage der Engländer trotz der Reihe von großen Er folgen doch noch recht prekär ist und daß an ein Ende des Krieges nicht so bald zu denken ist. Dies zeigt sich schon in der Nervosität, mit der die Engländer in neuerer Zeit Verschwörungen in Südafrika an allen Ecken und Enden erblicken. Solche Verschwörungen wittert auch Alexander der „Kleine" von Serbien, der entgegen dem Wunsche des Königs Vater Milan, entgegen dem Willen des Kabinets und auch entgegen den Wünschen der Mehrheit des Volkes beschlossen hat, die etwas bejahrte Frau Draga Ma sch in zur Königin von Serbien zu machen. Trotz der offiziösen Ver sicherungen aus Belgrad gehen die Dinge in Belgrad keineswegs so glatt, wie Alexander dies gern möchte. Wenn auch nach vielen Mühen die Bildung eines neuen farblosen Kabinets gelungen ist, so scheint doch die Stimmung in der serbischen Armee trotz der kräftigen Mahnungen des Königs eine bedenkliche zu sein und ob Fürst Milan seine Kaltstellung ohne weiteres hinnehmen wird, bleibt doch abzuwarten. Jedenfalls dürfte das Eheleben Alexanders kein rosiges werden und man wird sich vielleicht noch auf manche Ueberraschungen aus diesem bedenklich „interessanten" Balkanstaate gefaßt machen müssen. Die chinesischen Wirren Bremerhaven, 26. Juli. Wer Wilhelmshaven während der Vorbereitungen zum Auslausen von „Frankfurt" und „Wittekind" gesehen hat und jetzt Bremerhaven sieht, muß die Exaktheit und Promptheit, mit der die deutsche Heeresverwaltung, die Marine und die deutsche Privatschifffahrt bei diesen ersten Proben auf die seit langer Zeit in der Theorie auf gestellten Exempel in einander arbeiten, über alle Maßen bewundern. Alles klappt hier in der voll endetsten Weise. Voll Stolz blicken denn auch alle Betheiligtcn auf das hin, was hier geleistet wird, und von den ersten Sachverständigen hört man immer und immer wieder Urtheile, die geradezu glänzend sind. „Die Ansrüstung dieser Expedition ist für Deutschland mehr werth als drei Kaisermanöver" und „Das sollen uns die Engländer einmal nachmachen!" hört man vielfach sagen. „Nicht eine Truppe haben sie nach Transvaal annähernd so ausgerüstet hinaussenden können, wie unsere Seebrigade hinausgeht!" In der That, es ist ganz unglaublich, auf was alles bei der Ausstattung der Brigade geachtet worden ist, wie ge waltig ihr Train ist, den sie als erste Voraussetzung nachhaltiger militärischer Erfolge mit sich nimmt, lieber den neuen und den Kaiserhafen vertheilt liegen die für Ostasien bestimmten riesigen Transportschiffe. Die Riesen wieder unter den Riesen sind der „Rhein" des Lloyd und die „Batavia" der Hamburger Gesell schaft, die mit ihren gewcltigen Decks alles überragen. Ringsum auf den Gleisen hält Güterzug um Güterzug voll Kriegsmaterial. Da sind Wagen mit Lafetten und Mnnitionskarren, ganze Züge mit Krankenwagen unter dem Schutz des Genfer Kreuzes, da sind Züge von langen flachen Wagen, die Bretter, nichts als gleichmäßige schmale Bretter enthalten. Wieder andere enthalten starke, unten zugespitzte Pfähle, andere tragen Eisenbahnwaggons, Locomotiven, Locomobilen, daS Material der Pioniere und Eisenbahntruppen. Ein Zug enthält nichts als übermannshohe, oben offene Kisten von räthselhafter Bestimmung, deren eine schmale Wand als Thür geöffnet und verschlossen werden kann; drei hohe Bügel, ähnlich dem über dem Nacken des Pferdes an russischen Gespannen, überwölben die offene Seite der Kisten. Der Mittelste trägt auf seiner Höhe einen starken Eisenring zum Einhaken einer Kette. Wie wir hören, sind diese Kasten zum Ein- und Ausladen der Pferde mittels der riesigen Flaschenzüge der Staemer bestimmt, ganz oben auf dem Deck eines jedes Schiffes werden sechs schwere Pontons untergebracht. Bei ihnen lagern sorgfältig fortirt, Balken, Bretter, Holz riegel rc. Diese Pontons sind das erste Material, das man bei der Ankunft in China gebrauchen wird. Sie dienen zur Zusammenstellung der Fähren, auf denen die Landung erfolgen wird. Tausende von fleißigen Händen sind allenthalben emsig und geräuschlos bei der Arbeit. Alles verschwindet mit großer Schnellig keit im Bauch der Schiffe; namentlich interessant ist d^s Schauspiel bei der „Batavia". Sanitätstrains, Munitionscolonnen, ganze Eisenbahnzüge mit Schwellen und Schienen für mehrere Meilen, auf denen sie einst laufen sollen, sie alle verschwinden in dem geheimniß vollen, schier unersättlichen Jnnenraum des Riesen- vampfers. Auf einigen der nach Ostasien gehenden Schiffe werden auch wohl, hauptsächlich um festzustellen, wie sie die lange Fahrt ertragen, einige Pferde die Reise mitmachen; in der „Halle" zum Beispiel wurden heute Abend sechs etwa zwölfjährige Schwadrouspferde aus den Beständen der Lüneburger Dragoner in den bereits beschriebenen Gestellen eingeschifft. Die Ein schiffung eines Pferdes dauert etwa fünf Minuten. Die Mannschaften eigneten sich sehr schnell die er forderlichen Kunstgriffe an. Nächst den Pferden be finden sich von größeren Thieren noch Kühe und Hammel, und zwar letztere als Lieferanten frischen Fleisches an Bord. Großes Interesse wird der mili tärischen Verwendung der Eisenbahnen im Dienst der vstasiatischen Expedition entgegengebracht. Zur Regel ung des Verkehrs sind in Bremen wie in Bremer haven Bahnhosscommandanturen eingerichtet worden, deren Leiter Generalstabsosficiere sind. In das Feld der Einrichtung mililärischer Eisenbahnetappenstraßen gehört auch die versuchsweise Anlage einer Kriegs- verpflegungSanstalt, wie sie in Bremen zur Speisung der auf dem Transport befindlichen Trupp ntheile in Ziegelrohbau als „weiße Halle" errichtet worden ist. Der Kaiser läßt sich über die Ergebnisse und Beob achtungen, welche bei der Abwickelung des militärischen Eisenbahnverkehrs festgestellt werden, täglich Bericht erstatten. Das Experiment ist um so werthvoller, als nicht wie bei einer allgemeinen Mobilmachung der Privatverkehr vollständig aufgehört oder nach einem sorgfältig vorbereiteten Mobilmachungs-Fahrplan ver fahren werden kann. Die Farbe der Drillichanzüge für unsere ostasiati- schen Truppen ist gewissermaßen eine Schutzfarbe, die dem Erdreich der Tropengeqend ähnelt. Um sür die Tropen- ausrüstung unserer Marine eine solche Schutzfarbe zu finden, hatte das Neichs-Marineamt seinerzeit eine Preis aufgabe ausgeschrieben, deren Lösung besonders schwierig war, weil diese Farbe sich im Wasser, d. h. im Tropen regen und in der Brandung, nickt lö^en durste, dagegen ohne Anwendung von Chemikalien allein mit Marineseife auswaschbar sein sollte. Gleichzeitig sollte aber dieser Farbstoff keine chemischen Zusätze enthalten, die die Faser angriffen. Die Aufgabe ist von dem Marine-Stations- Apothcker Milch gelöst worden, indem er einen grün bräunlichen Farbstoff aus einem Auszug aus der Cichorie und dem Chlorophyll herstellte, der von allen anderen allein den Anforderungen entsprach. Schön ist er freilich nicht und verräth seine Abstammung von Cichorie in einer für das Auge nicht gerade angenehmen Weise. — Um im Falle von Explosionen oder Verstümmelungen der Lei chen die Todten oder deren Ueberreste sofort feststellen zu können, erhält jeder ins Feld ziehende Mann eine Er- kennungs.Marke, die mit dem abgekürzten Namen des Truppentheils und der Nummer der Kriegsstammrolle versehen ist. Die Nummern laufen innerhalb jeder selbst ständigen Truppenabtheilung (Compagnie, Batterie, Schwa dron, Stab rc.) von 1 bis x und sind nebst den Bezeich nungen in den Marken eingestanzt. Die Marken sollen von den Mannschaften stets an einem Bande um den Hals getragen werden, so daß jeder Krankenträger oder Lazarethgehilfe sie sofort fassen kann. Welche große Arbeit das Proviantamt in Berlin in den letzten Tagen zu bewältigen hatte, mag man daraus ersehen, daß innerhalb ganz kurzer Frist u. a. 12,000 Ctr. Mehl und 3500 Ctr. Zucker in Kisten zu verpacken und zu verlöthen waren. Der Herzog von Sachsen-Meiningen hat den nach China gehenden Unteroffizieren und Mannschaften des 32. Infanterieregiments und des 3. Bataillons des 95. Infanterieregiments ein ansehnliches Taschengeld über weisen lassen. Jeder Unteroffizier erhält 100 und jeder Gemeine oder Gefreite 50 Mark. Bremerhaven, 27. Juli. „Parole China!" ,Mit Hurrah nach Peking!" „Zehntausend Mark für )en Kopf des Prinzen Tuan!" so lauteten, von unge- üger Hand gemalt, immer und immer wieder die Treideinschriften auf den Waggons der von früher Morgenstunde an bei der Lloydhalle einrollenden rie- igen Militärzüge. Von einer Speisung der Truppen n Bremerhaven ist Abstand genommen worden, da die Zeit knapp war und da die Bremer erst kurz vor- ;er ausgiebige Gastfreundschaft geübt haben. Dagegen finden die Leute vor ihrer Einschiffung reichlich Zeit, ich von Angehörigen und Freunden zu verabschieden, und namentlich das wichtigste zu erledigen, nämlich Ansichtspostkarten zu schreiben. Im ganzen sind von 6 Uhr Morgens an fünf Militärzüge eingetroffen. Der Kaiser besuchte zunächst den Riesen „Batavia", der die Mehrzahl der Truppen, nämlich über 2200 Mann aufnehmen sollte. Die Truppen haben die Pickelhaube, die Ulanenczapka, den Husarentschako und den Artilleriehelm gegen den allen Truppen gattungen gemeinsamen kecken Strohhut mit der auf geschlagenen Krempe vertauscht, und sie haben dabei offenbar, was ihr Aussehen anbetrifft, nicht verloren. Ihre Erscheinung ist viel vortheilhafter als beispiels weise die der Mannschaften, die als Angehörige der beiden Seebataillone von Wilhelmshaven aus zu Be ginn des Monats ihre Fahrt angetreten haben. Viel trägt hierzu bei, daß sie nicht die einförmigen Kaki- anzüge, sondern die blaue Litewka tragen, von der sich die kräftigen Farben der Achselklappen höchst vor- theilhaft abheben, und die außerdem zu den bauschigen Kniehosen, den naturfarbenen Schaftstiefeln und dem so unternehmend ausschauenden Strohhut brillant lassen. Bremerhaven, 27. Juli. Der Kaiser kam mit den Prinzen Eitel Friedrich und Adalbert und )em Reichskanzler Fürsten zu Hohenlohe um 1 Uhr an Land. Vor der Halle des Norddeutschen Lloyd verabschiedete sich der Kaiser mit einer längeren An- prache von den nach Ostasien abgehenden Truppen. Die „Batavia" ist um 1^, die „Halle" um 2 und die „Dresden" um 2'/^ Uhr unter begeisterten Kund gebungen einer großen Menschenmenge in See ge langen. In der Ansprache, mit welcher der Kaiser heute die nach Ostasien gehenden Truppen verabschiedete, wies der Kaiser zunächst auf die Aufgaben hin, die dem Deutschen Reiche in den letzten Jahrzehnten auf überseeischem Gebiete erwachsen sind und führte dann aus, die Trupven sollten nunmehr vor dem Feinde Probe ablegen, ob die Richtung, in der Deutschland sich in militärischer Beziehung bewegte, die rechte sei. Seine Schwester. Roman von Fanny Stöckert. 31. Fortsetzung (Nachdruck verboten.) Frau Flora hatte sehr elegante Toilette gemacht zur Feier des Tages, das hellseidene Kleid, daS Hütchen mit dem Veilchenbusch, alles war chic und geschmackvoll." Du hast dich ja ungeheuer fein ge macht," sagte Fred spöttisch, ohne ihren fragenden, forschenden Blick zu beachten; ach, wie dankbar wäre sie gewesen für ein freundliches Wort der Anerken nung ihrer hübschen, kleidsamen Toilette. „Da muß ich wohl auch noch eilends meinen Bratensrack anlegen," fuhr er in demselben spöttischen Ton fort, „aber es geht ja nur zu Muttern, die nimmt es nicht übel, wenn ich im Alltagskleid erscheine, und Ihr hoffentlich auch nicht," wandte er sich an das Brautpaar. So ging es denn zu Muttern, sie stand schon am Fenster hinter den blühenden Geranientöpfen und harrte ihrer Kinder. Wie schmuck sie aussahen, die beiden jungen Paare, Melitta und ihr Verlobter so strahlend in ihrem jungen Glück, Flora so clüc, so elegant, Fred allerdings ernst, wie immer, die Falte zwischen den Brauen schien sich heute noch vertieft zu haben. Ach, wie würde es sie beglücken, einmal nur den alten, fröhlichen, sorglosen Ausdruck in seinen Zügen wrederzusehen. Vielleicht, Flora hatte ihr vor etwas anvertraut, vielleicht, wenn in dem stillen Doktorhause helles Kinderlachen ertönte, lernte er es auch wieder, das Lachen, er war ja noch so jung und stets eine solche Frohnatur gewesen bis zu jener Zeit in Berlin, die sein ganzes Wesen ge wandelt. — Nachdem sie noch einen besriedigten Blick auf die mit Blumen geschmückte zierlich gedeckte Tasel ge worfen, öffnete die Frau Justizräthin die Thür, ihre Gäste, die jetzt ins Haus traten, zu begrüßen. „Es ist doch immer am gemüthlichsten beiMuttern!" rief Fred, als man nun Platz genommen. „Und alles noch ebenso unverändert, wie zu den Tagen in G.," fügte Harden hinzu, „als ob die Zeit hier stillgestanden, man könnte glauben, wir säßen wieder wie einst in dem alten aemüthlichen Hause am Markt dort. Die alten Möbeln, die Blumen am Fenster, die vorweltlichen Bilder da über'm Sopha, o, wie mich das alles anheimelt!" „In Berlin waren wir sreilich etwas moderner eingerichtet," sagte die Frau Justizräthin „heimisch ist es mir aber dort nie geworden. Doch denken wir nicht mehr an jene Zeiten," brach sie schnell ab, als sie sah, wie Freds Antlitz sich verfinsterte, und seine Blicke sich wie in weite, weite Ferne richteten. „Man lebte doch damals," sagte er leise, als er aber jetzt dem durchdringenden Blick Hardens begegnete, warf er den lockigen Kopf energisch zurück, und be- iheiligte sich lebhaft an der Unterhaltung. Nein Harden so wenig, wie ein Anderer sollte da je erfahren, wie es auf dem Grund seiner Seele aussah, wie da zu lesen stand die alte Geschichte von verrathener Liebe, von unvergessenen Tagen, solch ein Blick war einzig und allein dem Mutterauge gestattet. Und das Mutterauge allein sah es auch, wie forcirt seine Heiter keit war, wie wenig sie ihm vom Herzen kam, wie sein Lachen so ganz anders klang, als in früheren Zeiten. Jetzt brachte er sogar einen humoristischen Toast aus auf das Brautpaar, die Gläser klangen zusammen, dann sprach Harden und ließ sie, die beste der Mütter leben. So verlief denn daS Verlobungs mahl so heiter, wie möglich, später wurde von den beiden jungen Paaren noch eine Promenade nach dem Strand unternommen, und dort gingen sie auseinander. Fred und Flora schritten ihrer Wohn ung zu. „Sie werden sich doch sehr einschränken müssen," begann Letztere die Unterhaltung, „der Gehalt, den Harden bezieht, ist nicht beveutend." Fred blickte in das scheidende Gestirn des Tages, überall leuchtete eS auf in rother Gluth, die Fenster der Villen erschienen wie illuminirt, das Meer schimmerte rosig, und in dieser rothen Abendbeleuchtung wandelte dort am Meeresstrand ein einsames Paar, zwei, die das erste Menschenglück gefunden, und an ihm, der sich einst für einen Liebling der Götter ge halten, der an fein Glück so fest geglaubt, da war es vorüber gegangen, oder hatte er nur nicht verstanden es festzuhalten, nahe war eS ihm doch gewesen, Carla! wenn sie jetzt hier neben ihm ginge! aller Groll gegen sie schwand in diesem Augenblicke dahin, ach, hätten sie Beide sich bescheiden können, wie seine Schwester und Harden, hätten sie nicht verlangend die Hände auSgestreckt nach allem Schönen, waS die Erde bietet, alles genießen, alles sich zu eigen machen wollen, dann, ja dann! „Das Leben ist heutzutage sehr kostspielig," fuhr Flora unbekümmert um sein Schweigen fort,„ und wenn dann erst die Sorgen kommen" „Dann, meinst Du, muß ihr Glück in Trümmer fallen, o, solch ein Glück hält stand, das ist auf andern Grund gebaut, als" — er zögerte — und dann sprach er eS doch rücksichtslos aus: „als das unsere!" „Fred!" Die junge Frau war leichenblaß ge worden. „Glaubst Du nicht an meine Liebe!" stammelte sie. „O ja, warum soll ich nicht daran glauben, warst Du es doch, die mich erwählt, nicht ich habe Dir den Antrag gemacht, wie es sonst wohl üblich ist." Wie höhnisch, wie bitter seine Stimme klang, noch nie hatte er solch einen Ton Flora gegenüber angeschlagen. Tief erschrocken sah sie zu ihm auf. „O Fred, Du bist graufam", flüsterte sie, „ich bitte Dich, schone mich, nicht meinetwegen, sondern unser- KindeS wegen, wer weiß, ob ich es überstehe. — Dann — dann bist Du ja wieder frei, kannst ein neues Leben beginnen. —" „Sprich doch nicht solchen Unsinn", versetzte Fred ärgerlich und ein wenig beschämt, daß er sich auch so hatte Hinreißen lassen! Fortsetzung folgt.