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an einer großen Landstraße, an der es noch Gasthöfe für Ausspannung gab. Das Fuhrwerk beherrschte damals noch die Hauptstraßen. Zu Dutzenden hielten die verschiedensten Pferdegespanne an den Gasthäusern. War das nicht eine Ge legenheit für einen Jungen, Studien zu treiben, alles zu untersuchen und zu beob achten ? Die blank geputzten Messing- und Bronzebeschläge an den Geschirren, an denen natürlich fast nie die Schmuckscheiben fehlten, waren für uns kein end gültiger Beweis der Ordnung; nein, wir mußten alles umdrehen und nachsehen, ob auch die Unterseite, was selten genug vorkam, sauber war. Wir gaben dann immer, allerdings außer Reichweite der Peitsche, dem Kutscher den Befund seines Ge schirres bekannt. Vorher hatten wir aber hauptsächlich aus den Scheiben den manchmal zentimeterdicken Schmutz herausgekratzt und formten uns davon große Kugeln, Männchen oder kleine Tiere. Diese Masse war in ihrer Knetbarkeit genau so wie das heute käufliche Plastilin, weil sie hauptsächlich aus ausgeschwitztem Talg und Fett bestand. Durch das ständige Scheuern auf dem Fell wurde aller dort sitzende Staub mit aufgenommen, bis die Scheibe manchmal ganz ausgefüllt war. Hatte solcher Schmutz genügend lange unter den Metallteilen gesessen, so gesellte sich noch der Grünspan dazu und durchsetzte die ganze Masse. Damit wurde sie konserviert, vor allem aber auch härter, und dadurch schwerer knetbar. Immer aber fanden wir, daß die dem Fell des Pferdes aufliegende Masse spiegelblank poliert war, also ganz genau so wie die oxydierte Kruste auf der Unterseite der Rackeler Scheibe (Abb. 2), auf der ich die glatten Flächen nicht schraffiert habe. Inwieweit schon vor mir Teile von dieser Kruste ausgekratzt worden sind, entzieht sich meiner Kenntnis. Im Schnitt c sieht man deutlich, daß die Scheibe hauptsächlich in ihrem unteren Teile am Pferd fest angelegen hat, während sie oben durch die Schnur etwas Abstand bekam. Die Masse hatte sich bis dahin gefüllt und dann an den Stellen geglättet, wo sie auf dem Fell aufgelegen hatte. Das geht auch daraus hervor, daß die Patina unter dem angehäuften Schmutz genau so blank war wie an anderen Stellen, was wiederum dafür spricht, daß die Scheibe schon patiniert war, als sich dieser Schmutz ansetzte. Wo hat nun diese Schmuckscheibe am Pferd gesessen ? Die Frage ist schwer zu beantworten. Keinesfalls auf der Stirn, da das Pferd dort am wenigsten schwitzt. Dagegen spricht auch die ganz plan abgeschliffene Stelle am oberen Scheibenrand (Abb. 1, bei b oben). An der Brust ? Dagegen spricht die Lage der Abnützung, ganz abgesehen davon, daß die Befestigung der Scheibe mit ihrer ausgefallenen Ösenstellung hier schwer denkbar wäre, überdies die Vereinigungsstelle von Brust und Schulterriemen meist etwas vom Körper abhängt. Die größte Wahrschein lichkeit hat daher der Sitz der Scheibe auf der Schulter oder an einer Flanke. Die Schnur oder der Riemen, an dem sie befestigt war, muß offenbar schräg gespannt gewesen sein, denn nur dadurch erklärt sich die Lage der abgeschliffenen Stelle auf der Oberfläche, auf der wohl ein ganz bestimmter Gegenstand immer in der gleichen Richtung gescheuert hat. Viele Merkmale sprechen also dafür, daß die Scheibe während ihres Gebrauchs nicht mehr besonders gepflegt worden sein kann. Kunst- und mühevoll war die Scheibe als Schmuckstück ehedem von einem tüchtigen Handwerker geschaffen worden. Sie kam dann zum Gebrauch für ihre eigentliche Bestimmung in fremde Hände. Mag sie dort anfangs — solange sie neu war — auch entsprechend behandelt worden sein, allmählich wurde sie alltäglich und damit vernachlässigt. Und das deshalb, weil Hersteller und „Verbraucher“ nicht mehr die gleiche Person waren.