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Tagesspruch. Der Schmerz ist ein Versuch, Ungleichheit gleichzustellen; Drum scherzen ungestraft nur unter sich Gesellen, Mit Kleinerem scherze nicht, er wird sich überheben; Und nicht mit Größerem, er wird dirs nicht vergeben. Friedr. Rückert. Oer Retter. Tit. 2, 11: Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes. Kürzer und treffender kann man es kaum aussprechen, was einst mit dem Auftreten Jesu Christi in der Erden welt Neues gekommen ist, und was immer wieder da Neues beginnt, wo er neu in einen Kreis von Menschen tritt, die bisher nichts von ihm gewußt haben. Wir, die wir in dieser ganzen Gedankenwelt und in einer Um gebung von klein auf heranwachsen, in der er seit über tausend Jahren sein stilles Wirken ausbreiwt, können das so deutlich nie empfinden und erkennen, wie Menschen, die zum erstenmal im Gegensatz zu ihrer ganzen Lebenserfah rung deutlich sehen, was er bringt Geradezu verblüffend ist es einmal von einem der höchsten Beamten in China vor wenigen Jahren ausgesprochen worden. Da ging im Ministerrat das Verhandeln darum, wie man dem Riesen reich zu einem Emporkommen aus seiner Not helfen könne. Mel Kluges wurde da geredet und vorgeschlagen, bis endlich einer sagte: „Was wir brauchen, sind nicht all die äußeren Maßnahmen bloß; wir brauchen mehr, nämlich innere Erneuerung, und die kommt allein durch Jesus Christus.' Ein anderer widersprach ihm zornig: „Was brauchen wir Christus! Wir haben Konfutse. Der ist älter und vornehmer.' Da gab ihm der erste zur Ant wort: „Wir haben Konfutse seit dreitausend Jahren. Er hat uns noch kein Krankenhaus gebaut, hat unsere Not nicht gelindert, unsere Kinder nicht erzogen. Ich habe aber in meiner Provinz seit zehn Jahren erst die christliche Mission und schon steht das Krankenhaus, überall sind die Christen daran, den Hunger zu stillen, überall sammeln sie die Kinder aus der Verwahrlosung.' Der Mann hat recht. Laßt uns einmal nachdenken darüber, daß in der Christenheit überall von Anfang an die Werke der Barm herzigkeit getrieben sind; laßt uns fragen, woher die Ver antwortung der Liebe kommt und die Freudigkeit des Dienens, trotzdem wir Menschen der Sünde sind wie jene andern. Die Antwort wird lauten: Weil Christus da ist — in ihm tritt die heilsame Gnade Gottes in unser Leben! Mit ihr wandern wir getrost weiter auch durch diese wirre Zeit. Ltnsere Reichstagsabgeordneten. Was sie von sich selbst erzählen. Sehr kurzweilig ist die Lektüre der 577 Lebens beschreibungen wirklich nicht, die im Reichstags handbuch von den alten und den neuen Volksvertretern „mit persönlichen Angaben" verfaßt worden sind. Aber beim Durchblättern dieser höchst persönlichen Mitteilungen stößt man doch auf manches, das dem Leser ein gewisses Lächeln abzwingt, weil nämlich — die liebe Eitelkeit hier und da so ein bißchen hervorquillt. Bei den Kommunisten allerdings ist hierbei die Ausbeute ganz gering; denn die Mitglieder dieser Partei beschränken sich fast durchweg auf die allernotdürstigsten Lebensdaten. Höchstens daß hier und da die — Vorstrafen erwähnt sind und z. B der Partcivorsitzcnde Thälmann mitteilt, er sei „1. Bundesführer des „verbotenen" Noten Frontkämpfer bundes Deutschlands". Häufig findet man bei den Kommu nisten aber auch die kurze Angabe, aus dieser oder jener Gewerk schaft ausgeschlossen zu sein, — ein Niederschlag aus den Kämpfen der Sozialdemokratie und der Kommunisten um den maßgebenden politischen Einfluß in den Freien Gewerkschaften. Sehr sorgfältig ist bei fast allen, hier und da auch bei den kommunistischen Abgeordneten — die Teilnahme am Kriege geschildert. Es sind sehr ost ganze Stammrollen auszüge. Und wer reklamiert wurde, verzeichnet gleich noch die anfordernde Behörde. Allerdings hat so mancher Ab geordneter von heute einige Mühe gehabt, die militärische Stufenleiter hinaufzuklimmen, und so blieb denn einer von ihnen treu und brav auf dem Kutscherbock des Trainsahrers sitzen. Sogar „als Armierungssoldat im Felde" findet man ein paarmal verzeichnet. Natürlich hat ein jeder, der draußen einen, mehrere oder gar viele Orden erhielt, dies ganz genau angegeben, und zwar tun dies die Mitglieder aller Parteien. Wer sich im Baltikum oder in Oberschlesien noch Nachkriegs orden holte, vergißt nicht, auch das mitzuteilen. Einer der Abgeordneten erzählt, er sei wegen Tapferkeit vor dem Feinde zum Vizewachtmeister befördert worden und ein damals Sechs zehnjähriger (!) hat es" im Baltikum zum Fähnrich und — Kompagnieführer gebracht. Einen anderen aber zwang eine Kriegsdienstbeschädigung und der — Heldentod seines Bruders zur beruflichen Umstellung vom Gutsverwalter zum Uhrmacher. Wieder ein anderer Abgeordneter, der es „an der Front zum Unteroffizier" gebracht hat, ist dann „gleich nach der Revolution eingetreten für die Erneuerung des deutschen Vaterlandes"; ein Kollege von ihm, der eine Zeitlang auch der Reichswehr angehörte, konnte sich nur der etatsmäßigen Gesreitenwürde erfreuen und des „Deutschritterkreuzes" als Ehrenzeichens. Schnell mag noch erwähnt werden, daß der jetzige Reichskanzler drei Jahre hindurch bis 1918 an der Westfront stand, und zwar zuletzt als Maschinengewehr- osfizier, sich die beiden Eisernen Kreuze erwarb und ver wundet wurde. Ein jüngerer Abgeordneter, der auch ver wundet wurde, teilt außerdem mit, daß man ihm 20 Prozent Kricgsdienstbeschädigung anerkannte. Gar Merkwürdiges aus seinem Leben erzählt mancher Ab geordneter der staunenden Mitwelt. So hat einer von ihnen einen siebenmonatigen Distanzrttt von Berlin nach Adrianopel gemacht, ein anderer trägt stolz die Fahne einer Hundertschaft, was ihm nicht schwerfallen kann, da er 1919 Fahnenjunker gefreiter in der Reichswehr war, außerdem als „bekannter Reichsredner und unausgesetzt im ganzen Reichsgebiet tätig" für seine Partei ist, schließlich sich selbst auch als „Finanz- und Wirtschaftssachverständier" bezeichnet. Ein Kommunist hat es etwas schwerer, der teilt nämlich mit, daß er seit dem 8. Juni 1930 in Festungshaft sitze; Adresse ist an gegeben. Kurzweg schreibt wieder ein anderer Abgeordneter, er habe „an allen Unternehmungen der Hochseeflotte" teil genommen, was wohl ein bißchen übertrieben sein dürfte. Die Politik spielt natürlich auch kräftig ins Leben der Volksvertreter hinein; so bringt einen früheren aktiven Offizier die „Tätigkeit in dem badischen Kriegervereine in Gegensatz zu republikanischen Behörden" und „Ereignisse im Herbst 1923 bedingen seine Übersiedlung nach Münzen!" Ein pömmerscher Gutsbesitzer bekennt sich ats Verfasser von zwei Broschüren, die früher in einem Erfurter Verlag er schienen, jetzt „durchdenVerfasserzu beziehen" sind. Wer heute ein biederer Handwerksmeister ist, vergißt selten mitzuteilen, daß er als Geselle Mittel-, Nord- und Süddeutsch land „bereiste". Ein Ingenieur spricht von „w e i t a u s g r ei - fender Unternehmertätigkeit im In- und Ausland" und ein anderer „leitete ein Geschäftsunternehmen des Herrn von Heydebreck", wodurch die meisten Leser wohl auch nicht viel klüger werden. Ein Kommunist wird schon deut licher; er Hai „wegen politischer Tätigkeit für das Proletariat vom Mai 1924 bis August 1928 in den Zuchthäusern Preußens gesessen" und hat gleich im nächsten Jahre noch zwei Jahre Gefängnis dazu bekommen „wegen seines Kampfes gegen den Faschismus". Dafür ist schmunzelnd zu vermelden, daß ein Nationalsozialist in dem netten, aber un bekannten mecklenburgischen Dörfchen Kiekindemark bei Parchim geboren ist. Verschiedene Abgeordnete können es sich nicht verkneifen, der ehrfurchtsvoll lesenden Mitwelt zu er zählen, sie hätten diese oder jene Prüfung „mi 1 gutem Er folg" oder gar „mit Auszeichnung" bestanden. Da mag man schnell die drei „kour-ls-msrftö"-Ritter im Reichstag erwähnen; es sind das der Generaloberst von Seeckt, der National sozialist und Hauptmann a. D. Göring und — als einziger „Zivilist" — der Wirtschaftsparteiler Sachsen- berg, der zuletzt das „Marinejagdgeschwader" in Flandern kommandierte. Mit größter Sorgfalt sind von den Abgeordneten die schriftstellerischen „Verbrechen" mitgeteilt worden, die ihren Ursprung oft in „emsiger Selbstausbildung und Fort arbeit" haben. Manche schrecken nicht einmal davor zurück, sich als Verfasser von Schauspielen, Romanen oder Gedichten zu bekennen, womit aber anscheinend niemand solche Lorbeeren errungen hat, daß man seine Werke außerhalb seines Freundes kreises kennt. Und selten wird vergessen, zu erwähnen, daß man Mitarbeiter irgendwelcher Zeitungen, Wochen- oder gar Monatsschriften ist, noch seltener aber unterläßt man es, sämtliche Ehrenämter aufzuzählen. Aber die Krone des Parlaments wie des Lebens sind bekanntlich — die Frauen. 37 Abgeordnete flechten politische Rosen in das ach so „irdische Leben" des Reichstages, ohne dabei die Stacheln zu vertzssen. Sehr kurz und knapp erklärt eine Kommunistin als ganzen Lebenslauf neben dem Ge burtsdatum: „Volksschule besucht." Punkt! Aus! Also nicht gerade viel. Sie ist aber auch erst 28 Jahre. Und bei einer anderen Abgeordneten bleibt bas Mandat sozusagen in der Familie; denn sie erzählt, sie sei seit 1890 mit dem früheren Reichstagsabgeordnetcn K. verheiratet! Dr. Joh. Pritze. Berliner Weihnachtszauber. Autodroschken mit und ohne Rabatt. — Die neue U-Bahn- Strecke. — Ende des Weihnachtsmarktcs und Jubiläum des Weißbieres. Vor einigen Wochen trug- sich in Berlin etwas Merk würdiges zu, und dicht vor Weihnachten wandelte sich das Merkwürdige in Wunderbares, wie es der Weihnachtszeit ent spricht. Berlin steht bekanntlich im Zeichen des Verkehrs, und nun stand dieser Verkehr selbst tm Zeichen des Verkehrten. Um die öffentlichen Kraft- oder Auiodroschken ging es. Als im Sommer des jetzt glücklicherweise zu Ende gehenden Jahres die große Preissenkungsbewegung, von der sich wissenschaft lich noch nicht seststellen läßt, wo sie eigentlich cm märkischen Sande verlaufen ist, begann, vollführten die Berliner Auto droschkenbesitzer, die Fuhrherren, einen Streich, dessen sich die seligen Schildbürger nicht zu schämen gebraucht hätten: sie beschlossen eines Tages, nach jeder Fahrt von dem Fahrgast außer der durch den Fahrpreisanzeiger angezeigtei. Taxe noch eine Extragebühr von 20 Ps. zu erheben. Man kann sich denken, wie sich die Berliner — die Berlin besuchenden Fremden waren in die Taxengehcimnisse nicht immer ganz eingeweiht — um Fahrten in den Taxameterdroschken rissen! Es fuhren immer mehr Autodroschken gähnend leer und nach Kundschaft äugend durch die Straßen — „Korso fahren" nennt man das in Berlin. Als nun die Autodroschkenherren erkannten, daß sie es aus diese seltsame Weise nicht schaffen würden, schlugen sie den umgekehrten Weg ein: aus den plötzlichen Preisaufbau folgte ein ebenso unerwarteter Preisabbau, der in seiner Rapt- dität an einen Newvorker Börsensturz erinnerte. Jeder Droschkenführer war der erbitterte und unerbittliche Kontur- rem jedes Droschkcnführers, und das drückte sich darin aus, daß jeder „noch billigere Fahrpreise" ansetzte als die Konkur renz. Man umschmeichelte den Fahrgast, den man haben wollte, mit von Tag zu Tag steigenden Rabatten, und der Fahrgast fuhr ausgezeichnet dabei Kraftdroschken mit grün gelben Wimpeln vorn am Kühler gewährten 5 Prozent Rabatt, Kraftdroschken mit weißen Kreisen aus den Fensterscheiben 5 bis 10 Prozent, je nach der Inschrift, die innerhalb der Kreise geschrieben stand, Kraftdroschken mit der Berliner Bärenflagge am Kühler 15 Prozent usw. Bei diversen Droschken wurde außerdem noch die Extragebühr von 20 Pf. abgezogen. Gerade zu grotesk aber wurde die Sache in den letzten beiden Wochen vor Weihnachten: die Rabatte wurden immer größer, stiegen aus 20, 30, 40, ja sogar 50 Prozent an, und wenn das noch ein paar Tage lang so weitergegangen wäre, wäre der Fahr gast, der sich wie im Schlaraffenlande lebend vorkam, nicht nur gänzlich gratis gefahren, sondern hätte wahrscheinlich noch etwas dazubekommen, damit er überhaupt nur einsteige und sich herumfahren lasse. Aber es ging leider nicht so weiter, denn der Zauber war mit einem Schlage aus: die um den Fahrgast ringenden Droschkcnbesitzer einigten sich über den Kopf ihres Versuchsobjektes hinweg, und das Ergebnis der Übung ist, daß wir fortan wieder genau so kostspielig fahren werden wie vor Beginn der großen Kampagne — mit Taxenpreis. Extragebühr und allem, was sonst noch dazu gehört, Trinkgeld zum Beispiel. Ende dieses Weihnachtszaubers! Mittlerweile hat sich tm Berliner Weltstadtverkehr etwas, das sich schon eher sehen und hören lassen kann, ereignet: Berlin Hal eine neue unterirdische Schnellbahn bekommen, so daß sein U-Bahn-Streckennetz jetzt eine Länge von mehr als 80 Kilometern aufweist. Die neue Strecke beginnt unter dem Alexanderplatz und führt in zehn Stationen und in sechzehn Minuten nach Friedrichsfelde, ist also eine Bcrlin-O-Bahn. Der Bahnhof aber, der unter dem Alexanderplatz entstanden ist, wird von Kennern als der modernste und größte Unter- grundbahnhof der Welt bezeichnet. Dagegen ist es über dem Alexanderplatz fürchterlich! Man sieht hier den Platz vor lauter Brettern nicht, denn es wird schon seit Jahren an diesem Platz herumgebaut und herumgebuddell, und so weit des Menschen Auge blickt, ist Lattenzaun, nichts als Latten zaun. Der Platz würde Augen machen, wenn er sich selber sehen könnte, und der Fremde, der sich m dieses Labyrinth von Brettern, die eine neue Welt bedeuten, verirrt, kann nur mit einem Führer aus all dem Wirrwarr wieder herausfinden. Aber unten, wie gesagt, ist Großstadt Berlin und gleich in zwei Etagen und mit einer richtigen unterirdischen Schausensterstratze! Neben diesem allermodernsten Berlin und seinem Zauber darf jedoch das alte nicht ganz vergessen werden, jenes alte, das sich z. B. in Weihnachtsmarkt und Weißbier ausdrückt Weihnachtsmarkt — das lebt leider nur noch in der Erinnerung der ganz alten Berliner, denn was wir jetzt noch davon haben, ist, wie sich das in diesem Jahre wieder gezeigt hat, nur ein Johannes Termolen Originalroman von Gert Nothberg. 15. Fortsetzung Nachdruck verboten Freundlich lächelnd blickte der sie an. „Aber bitte, meine Gnädigste, Sie haben ganz recht." Zweifelnd sah sie ihn an, sah um seinen Mund das freundliche Lächeln und in seinen Augen die schweigende Perachtung. Große Verlegenheit auf feiten aller Herren. Termolen faßte das Sektglas, warf es zu Boden, nahm im nächsten Moment ein neues, füllte es. Er stieß mit Stettenheim an. „Auf dein Wohl, lieber Arnim! Du erlaubst doch? Meine Herren, auf das Wohl unserer Helden, auf das Wohl der deutschen Frau, die das Heldentum in des Wortes voll ster Bedeutung erfaßt hat, auf Frau Petermann und auf alle deutschen Frauen, die da denken wie sie!" Hell stießen die Gläser zusammen. Totenbleich saß Erle Strahlen da. Keiner der Herren stieß mit ihr an, von Ter- molens Blicken gebannt. Der aber blickte an ihr vorüber, als sei sie Luft. Ihr Herz pochte in rasenden Schlägen. „Mir ist nicht gut, ich will nach Hause," sagte sie tonlos und erhob sich mühsam. Termolen klingelte. Sofort flitzte der elegante Jean herein. „Jean, Fräulein Strahlen möchte nach Hause fahren. Das Auto soll losfahren," sagte Termolen ruhig. Verzweifelt hingen Erle Strahlens Augen an dem eher nen Gesicht, in dem keine Muskel zuckte. Die Herren ver beugten sich und ihre Gesichter drückten Unbehagen aus. Termolen begleitete die Schauspielerin hinaus. Auf der Treppe blieb sie stehen, legte die kleine Hand auf seinen Arm. „Hans, vergib mir. Ich war nicht bei Sinnen!" Er blickte sie nur an, sagte nichts. „Hans!" schluchzte sie auf, von wilder Angst gefoltert, ihn zu verlieren. Er richtete sich hoch auf, sah sie voll Verachtung an. „Keine Szenen, wenn ich bitten darf. Im übrigen könnte man nur wünschen, daß recht viele solche Augen blicke kämen, in denen die Menschen ihr wahres Gesicht ent hüllen." Er ging weiter und zwang sie so, ihm zu folgen. Unten wartete der Wagen. Er öffnete den Schlag. Sie sah, daß alles verloren war und laut abweinend warf sie sich in die Polster. Es war ihre letzte Fahrt in Termolens Wagen, das erkannte sie. Ihre Hände krampf ten sich ineinander. „Ich könnte mich töten, wie konnte ich mich so ver gessen!" wimmerte sie. Niemand hörte sie. Das Rattern des Motors bewies ihr, daß sie fuhr. Sie preßte das tränennasse Gesicht an die Scheibe. Dort lag das hell erleuchtete Haus. Auf der breiten Treppe stand eine mächtige Gestalt. Jetzt nichts mehr. Sigrid Lengenfeld war im Stadtpart gewesen. Sie kehrte erfrischt heim. Das Konzert dort hatte wohl wehmütige Erinnerungen in ihr wachgerufen, doch dann hatten sich die freundlichen Weisen alter Heimatlieder in ihr Herz geschmeichelt. Nun saß sie schon stundenlang daheim in ihrer kleinen Wohnung am offenen Fenster und sah in die Nacht hinaus. Sah hinüber zu den hell erleuchteten Fenstern. Einmal bewegte sich ein großer Schatten dort am Mit telfenster. War es nicht Termolen? Mit brennenden Augen blickte Sigrid hinüber. Und ob die Erde unterging und der Himmel einstürzte, sie liebte Hans Termolen. Sie würde sterben an dieser Sehnsucht nach einem Blick von ihm, dachte sie. Sie konnte nichts dafür. Die Liebe zu dem für sie doch ewig unerreichbaren Manne war in ihr Herz gezogen mit einer solchen Macht und Innigkeit, daß sie bei dieser Erkenntnis erschauernd die Augen schloß. Er hatte nicht die schöne Fürstin mit den dunklen, trau rigen Augen geheiratet. Sie war fort, schon lange. Aber sie, Sigrid, hatte ihn doch nun schon mehreremale in Gesellschaft der verführerischen Schauspielerin gesehen. Auch heute würde sie mit dort drüben sein. Das perlende Lachen, das schon ein paarmal vom offenen Fenster her überschallte. das paßte ja so gut zu dem sorglosen, frohen Gesicht der schönen Frau. Und dann hörte Sigrid die Antos hintereinander wegfahren. Sie sah, wie langsam die Lichter verlöschten, ein Zim mer nach dem andern dunkel wurde. Und dann blickte sie plötzlich wie gebannt hinüber. Der Mond schien hell und dort am Fenster lehnte die hohe Figur Termolens. Atemlos, mit pochendem Herzen saß Sigrid regungslos. Sie sah, wie er sich aus dem Fen ster beugte und in den Garten hinabsah. Der Duft der Levkoien stieg berauschend empor und irgendein Nachtvogel klagte im Gebüsch. Sigrid lehnte den Kopf auf das Fensterbrett. „Wenn er mich einmal küßte, ein einziges Mal!" dachte ihre Sehnsucht, und: „Will ich mich in die endlose Reihe der Frauen drängen, die Hans Termolen geliebt hat und die er beiseite warf?" warnte ihr Stolz. Sigrid faltete die kleinen Hände. „Vater, hilf mir, ich bin so allein!" murmelte sie leise. Als sie den Kopf wieder hob. war drüben das Fenster leer. Noch immer klagte im Garten der Vogel und der Wind strich durch die Bäume, daß ein geheimnisvolles Rau nen und Wispern draußen in der Nacht war. Langsam erhob sich das Mädchen. Die Glieder waren ihr schwer. Und noch einmal weinte in ihr die Sehnsucht auf: „Wenn er mich ein einziges Mal küßte!" Der Morgen graute und noch immer lag das Mädchen mit weit offenen Augen. (Fortsetzung folgt.)