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„Mit vierzig Jahren ist der Berg erstiegen, wir stehen still und schaun zurück; dort sehen wir der Kindheit stilles liegen und dort der Jugend lautes Glück" - Verse von Friedrich Rückert, die Brahms im Innersten getroffen haben dürften. Vor allem die letzte Strophe: „Nicht atmend aufwärts brauchst du mehr zu steigen, die Ebne zieht von selbst dich fort; dann wird sie sich mit dir unmerklich neigen, und eh du's denkst, bist du im Port." Nur zwei Sätze brachte er im Sommer 1884 zu Papier, zwei weitere dann ein Jahr später. Diese Sinfonie nun sollte eine herbe Frucht werden, ganz so wie Brahms Mürzzuschlag erlebt hatte. Denn dieser Ort war nicht wie Pörtschach am lieblichen Wörther See, wo die Luft schon süd lich schmeckt, eine mächtige Bergwand sich im kristallklaren Wasser spiegelt und die Seele weit und frei ist wie die ganze Landschaft. „Ich fürchte nämlich“ - schrieb Brahms an Hans von Bülow -, „sie [die Vierte] schmeckt nach dem hiesigen Klima - die Kirschen hier werden nicht süß.“ Es scheint, als habe sich Brahms bei der Suche nach den Orten für seine arbeitsreichen Som merurlaube immer nach seiner jeweiligen Stimmungslage gerichtet. Denn gerade hier am Fuß des Semmering, in der herben Bergwelt, wo Freud und Leid eng beieinander zu sein schei nen, wo kein Reichtum anzuhäufen ist, wo Leben und Vergehen, Licht und Schatten sich ergänzen und eine göttliche Natur alles umfaßt, grübelte er auch über Lieder, die alle eins bein halten: Verzicht, Resignation, Abschied. Auch im folgenden Jahr unterbrach er immer wieder die Arbeit an seiner Sinfonie, um sich derartigen Liedern zu widmen, z. B. auf den berühmten Heine-Text „Der Tod, das ist die kühle Nacht“ („Vier Lieder“ op. 96). Schwer la stend schleppt sich der Gesang, und klagend wird des verlorenen Glücks gedacht. Und so be dingt eines das andere: der Komponist, in tief ernste Gedanken gehüllt, schrieb Lied um Lied, durchweht von Wehmut und Melancholie, und komponierte eine Sinfonie, die in manchem sol chen Liedern ähnelt. Sein neues sinfonisches Werk wollte er mit Bülow bei dessen verständnisvollem Meininger Herzog in aller Stille ausprobieren, gab es doch dort ein Orchester, das höchsten Ansprüchen genügen konnte. Und so geschah es auch. Bülow studierte das Werk akribisch ein und