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April 1886. „STAHL UND EISEN.“ Nr. 4. 5 Der Junge sollte forschen, zu welcher Zeit Herr Gut mann wohl allein auf seinem Bureau sich zu befinden pflege. Karl machte seine Sache gut und brachte die erwünschte Nachricht, dafs Abends nach 7 Uhr der beste Zeitpunkt sei. Die Mutter schützte einen Aus gang vor, schlüpfte zur Hütte, liefs sich vom Thürhüter zu Herrn Gutmanns Bureau führen und klopfte leise an. Das Erstaunen des Ingenieurs war nicht gering, als auf sein Herein die verehrte Gemahlin des Herrn Directors eintrat. Gutmann, ein schon ziemlich be jahrter Junggeselle, hatte von der Pike an gedient, war sehr tüchtig in seinem Fache, jedoch Fremden und besonders Damen gegenüber etwas befangen und schüchtern. Die kluge Frau Jule schlug den richtigen Weg ein, mit gröfstcr Offenheit schilderte sie ihre Be ziehungen zu Grete und die Veranlassung, warum sie Herrn Gutmanns Wohlwollen anrufe. Ihr Mann habe jede Vermittelung abgelehnt. Wenn Herr Gutmann nochmals Nachsicht üben könne, ohne seinen Grund sätzen untreu zu werden, so thue er ein gutes Werk und ihr einen grofsen Gefallen. Der Junggeselle, der in jeder gebildeten Dame ein höheres Wesen sah und für die ihm stets freundlich und herzlich entgegenkom mende Frau Director auf Verlangen durchs Feuer ge gangen wäre, gab ohne Zögern seine Einwilligung. Beide traten in eine engere, vertrauliche Berathung, wie die Begnadigung einzufädeln sei, ohne das Ansehen und die Würde des Werkes zu schmälern. Herr Biedermayer lachte, als ihm seine Frau das Ergebnifs ihres diplomatischen Besuches mittheilte, hatte gegen die Absprache nichts einzuwenden, äufserte nur Zweifel über den Erfolg und meinte, er kenne seine Pappen heimer, nächstens ginge der Tanz von neuem los. Einstweilen wurde jedoch Friede gestiftet. Jan bat Herrn Gutmann für sich und seine Genossen demüthig um Verzeihung, die Aufwiegler fanden Gnade und Alles schien erledigt. — St. Martini darf im Biedermayerschen Hause eine leckere, mit Kastanien gefüllte Gans niemals auf dem Tische fehlen. Der beschaffte Vogel war diesmal be sonders schön und fett. Frau Jule bat ihren Mann, Herrn Gutmann einzuladen, da sie demselben für sein freundliches Entgegenkommen Dank schulde. Punkt acht Uhr Abends erschien der Geladene in feierlichem schwarzen Leibrock und blendend weifser Wäsche. Das Mahl war vorzüglich, Frau Jule versteht die Kochkunst aus dem Grunde, auch mangelte keineswegs ein guter Trunk, denn Biedermayer besitzt eine aner kannte Kennerzunge und liebt einen feinen Tropfen. Um das Gespräch in glattem Verlauf zu halten, mufste der Hausherr dasselbe beinahe ausschliefslich auf tech nische und geschäftliche Gebiete lenken, so dafs seine Gemahlin nach dem Essen sich stillschweigend mit ihrem Strickstrumpfe beschäftigte. Plötzlich rief Bieder- mayer: „Aber, Julchen, wo hast du die Cigarren? Sic entschuldigen, dafs ich als Nichtraucher erst jetzt daran denke.“ Die Cigarrenkiste wurde gebracht und nach einigem Nöthigen griff Herr Gutmann zu. Er konnte eigentlich niemals ohne Glimmstengel im Munde sein, hatte übrigens bezüglich der Güte seiner gewöhn lichen Hüttensorte einen bedenklichen Ruf, wenigstens fand das freigebige Anbieten derselben meist dankende Ablehnung von Seiten der Collegen und Bekannten. Als der Gast sich nach einem Feuerzeug vergebens umsah, da griff er in die Westentasche und brachte aus diesem deinem üblichen Vorrathsbehälter ein loses Streichhölzchen hervor, das er kurzer Hand in gewohn ter Weise an einer gewissen Stelle des Beinkleides in Brand strich, worüber das Ehepaar später herzlich lachte. IV. Leider waren die Befürchtungen des erfahrenen Hüttendirectors nur zu gerechtfertigt gewesen. Jan verfiel dem Trünke vollständig. Die Zeiten wurden noch schlechter, die Verdienste noch knapper. Mah nungen und Pfändungen drohten täglich, ein Stück des Hausrathes nach dem andern wanderte zum Leihhaus oder Trödler, trotzdem begleitete die Schnapsflasche den Unverbesserlichen stets zur Arbeit, aus ihr holte Jan sich Vergessen der Gegenwart und Trost für die Zukunft. Grete wurde zum drittenmal Mutter, die bitterste Armuth herrschte im Hause; zwar thaten die Verwandten, was sie vermochten, aber deren Mittel waren beschränkt, aufserdem fiel Alles in ein boden loses Fafs. Frau Jule sprang fortwährend der Familie bei, ohne sie wäre die Haushaltung rettungslos ver loren gewesen. Jan beging im' Rausche wiederholt ernste Wider setzlichkeiten und wurde endlich Knall und Fall ent lassen. Keine Fürsprache konnte mehr helfen, Herr Biedermayer erwies sich mit vollem Recht unerbittlich. „Wir sind ein Hüttenwerk, aber keine Besserungsanstalt für verkommene Trunkenbolde“, lautete sein strenges Urtheil. Jan suchte anderweitig Arbeit, fand sie auch, aber unter viel ungünstigeren Umständen. Nach kurzer Zeit erklärte er, auswärts lohnendere Beschäftigung er halten zu können, er wolle jeden Samstag Abend nach Hause kommen und das Ersparte mitbringen. Einige mal kehrte er heim und händigte seiner Frau einige Groschen ein, dann aber erfolgten seine Besuche sel tener und hörten zuletzt ganz auf. Die Verwandten und Frau Jule mufsten im wahren Sinne des Wortes die Familie vor dem Verhungern beschützen. Frau Jule griff nunmehr, da das Haupthindernifs einer Besserung beseitigt, mit kräftiger Hand ein und fand an Grete eine dankbare, geistesstarke, unverzagte Empfängerin ihrer Wohlthaten. Näh- und sonstige Arbeiten wurden zugewiesen, überall empfahl Julchen die fleifsige, zuverlässige Frau, sämmtliche abgetragene Kleider ihrer Kinder, gefüllte Efsnäpfe, Spenden an Lebensmitteln und Geld wanderten regelmäfsig in Gretes Wohnung. Nachhaltige, auskömmliche Hülfe trat jedoch erst ein, als die Hütte versuchsweise zur Errichtung einer Speiseanstalt und eines Logirhauses für unverheirathete und auswärtige Arbeiter überging und Grete die Ver waltung der Küche und Instandhaltung der Zimmer anvertraut wurde." Diese Aufgabe löste sie musterhaft, führte eine Reinlichkeit, Pünktlichkeit und Ordnung durch, die volle Anerkennung fanden. Niemals traf ein Tadel ihre Verpflegung, sie kannte der Leute Ge schmack und Neigungen, wufste sogar an den bewil ligten Sätzen zu sparen, um bei festlichen Gelegen heiten mit besonderen Leistungen hervorzutreten. Auch ihre eigene Haushaltung gedieh dabei, die Schulden wurden allmählich Pfennig für Pfennig getilgt, Geräthe, Wäsche und Kleidungsstücke ergänzt und der sehr be scheidene Versuch eines Sparkassenbuches gemacht. Ein Schimmer von Hoffnung leuchtete der armen, schwergeprüften Frau, auf welchen jedoch die Erinne rung an ihren verschollenen Mann wie ein finsterer Schatten fiel. Beinahe schon drei Jahre abwesend, hatte sie seit langer Zeit nichts mehr von ihm ver nommen. Eines Abends safs Grete beim Lampenlicht in. ihrer Stube, eifrig mit den monatlichen Abrechnungen beschäftigt, die Kinder schliefen bereits, als plötzlich ohne Anklopfen eine dunkle Gestalt hereintrat. Auf schauend erkannte sie sprachlos und erschreckt in dem wüsten Gesellen ihren Mann. „Ha! es soll dir gut gehen,“ rief er mit heiserer Stimme, „du lebst hier be haglich und im Ueberflusse, während ich in der Fremde herumlaufe, Noth und Hunger leidend. Schaffe etwas zu essen, ich habe heute wenig bekommen, auch einen Schnaps kannst du besorgen, es kollert mir im leeren Magen, der bedarf der Erwärmung.“ Die Kniee beb ten Grete, aber bald fand sie ihre ganze Festigkeit wieder und erkannte, dafs, an einem Wendepunkt ihres Geschickes stehend, Entschlossenheit nöthig sei, wenn nicht das alte Elend. von neuem beginnen sollte.