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IV. Unbeabsichtigte Wirkungen des Unfallver sicherungsgesetzes und seiner Handhabung. Die Section IV (Halle) der Knappschafts berufsgenossenschaft hat über die in ihrem Bereich beschäftigten einäugigen Arbeiter, gröfstentheils bergmännische Facharbeiter, aber auch Schmiede, Schlosser u. s. w., eingehende Erhebungen an gestellt (cfr. »Gompafs«, Jahrgang III, Nr. 1 u. 2). Es hat sich dabei herausgestellt, dafs von 171 Einäugigen — selbstverständlich nur solchen, deren zweites Auge intact ist — 154 durch den Verlust eines Auges in ihrer Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigt sind. Von den übrigen sind 8 um 5—10%, 6 um 10 — 20% und je einer um 25, 331/8 und 40 % geschädigt. Der Be richt enthält den etwas sarkastisch klingenden Satz: „Interessant ist es, dafs von den Betriebsführern, „welche keine einäugigen Arbeiter beschäftigen, die „Verminderung der Erwerbsfähigkeit gröfstentheils „auf 25 bis 30 % geschätzt wird, während von den jenigen, welche die Leistungsfähigkeit der Ein- „äugigen aus der Praxis kennen, in den meisten „Fällen überhaupt eine Verminderung der Erwerbs- „fähigkeit bestritten oder unter besonderen Um- „ständen diese fast stets auf 10 —15 % geschätzt „wird.“ Auf einem gröfseren Werke der Rh.-W. H.- u. W.-B. sind Erhebungen angestellt, die zu einem ganz ähnlichen Resultate geführt haben, wie die der Knappschaft. Wohl kommen dort Ar beiten vor, die Einäugigen nicht wohl übertragen werden können, aber es wird auf dem Werke eine Reihe von Facharbeitern, z. B. Schlosser, Feuerarbeiter u. s. w. beschäftigt, die trotz des Ver lustes eines Auges ihre frühere Thätigkeit fort setzen und in ihrer Leistungsfähigkeit gar nicht oder nur in geringem Mafse beeinträchtigt sind. Jetzt dagegen sollen einäugige Arbeiter nach den Entscheidungen des R.-V.-A. durchgehends nur noch eine Leistungsfähigkeit von 2/3 der früheren haben. Der Unterschied ist der: Jene Einäugigen, die ihre frühere Thätigkeit in gleicher Weise fortsetzen, haben ein Auge theils durch Krank heit, theils durch Unfall aufserhalb des Betriebes, theils durch einen nicht unter das frühere Haft pflichtgesetz fallenden Betriebsunfall verloren, kurz, sie haben keinen gesetzlichen Anspruch; bei denjenigen aber, die auf Grund des U.-V.-G. einen solchen haben und denselben möglichst hoch geltend zu machen suchen, kommt ein sehr wesentliches, die Leistungsfähigkeit beschrän kendes Moment hinzu: es fehlt der gute Wille zur Arbeit. Das Gleiche gilt natürlich bei allen anderen Verletzungen und es existirt vielleicht kein gröfseres Werk, das nicht derartige Erfahrungen gemacht hat. Das U.-V.-G. oder vielmehr seine Handhabung hat also geradezu die Wirkung, dafs es Verletzte, die eine Rente beziehen, we niger leistungsfähig macht, als gleichartig Ver letzte, die keinen gesetzlichen Anspruch haben, und diese Wirkung wird sich mit der Zeit immer mehr fühlbar machen. Unter der Wirkung einer übertriebenen Schätzung des Invaliditäts grades bei Verletzten werden namentlich auch diejenigen Arbeiter zu leiden haben, welche ohne Betriebsunfall in ihrer körperlichen Integrität ge schädigt sind. Bisher wurde bei vielen gewerb lichen Thäligkeiten kein Bedenken getragen, Ein äugige ebensogut wie Andere zu beschäftigen; es ist sehr fraglich, ob sich das in Zukunft nicht ändert, wenn Entscheidungen des R.-V.-A. die irrige Anschauung verbreiten, als ob ein Einäugiger bei allen Beschäftigungen nur 2/3 so viel leisten könne, als ein anderer Arbeiter; ja, einige vom R.-V.-A. getroffene Entscheidurigen können, wie oben bereits angedeutet, leicht da hin führen, dafs viele Arbeitgeber Arbeiter, die irgendwelchen körperlichen Fehler haben, nicht nur nicht mehr zur Arbeit annehmen, sondern auch, was viel einschneidender wäre, nicht mehr in ihrer bisherigen Beschäftigung, trotz sonstiger Befähigung dazu, belassen, sobald der Fehler bekannt wird. In Zeiten des Ar beitermangels mag diese Wirkung der Hand habung des Gesetzes weniger bemerkbar bleiben, in schlechten Zeiten, in denen sich ohnehin die mit dem U.-V.-G. verknüpften Lasten doppelt fühlbar machen, könnte sie leicht in bedenklicher Weise zu Tage treten. Auch vor Erlafs des U.-V.-G. war es in der Rh.-W. H.- u. W.-B. allgemein Gebrauch, dafs für die Verletzten, und zwar auch für denjenigen bei weitem gröfseren Theil derselben, der keinen Anspruch auf Grund des Haflpflichtgesetzes hatte, Fürsorge getroffen wurde. Freilich klebte dieser Fürsorge der Mangel an, dafs dem Verletzten kein gesetzlicher Anspruch zur Seite stand; aber auf der andern Seite war damals die Fürsorge in vielen Fällen insofern eine richtigere, als sie möglichst darauf ausging, den Verletzten in ge eigneter Weise zu beschäftigen, wobei dann sehr häufig ein über die wirklichen Leistungen hin ausgehender Lohn gewährt wurde. Offenbar kann ein verletzter Arbeiter in vielen Fällen an der früheren Betriebsstelle, wo ihm alle Verhält nisse bekannt sind, noch am ehesten eine seiner Leistungsfähigkeit entsprechende Thätigkeit finden; die Beispiele sind nicht selten, dafs ein tüchtiger Arbeiter, der infolge eines Unfalls die frühere Arbeit nicht mehr verrrichten konnte, der aber mit dieser Arbeit vollständig vertraut war, mit Erfolg zum Aufseher oder Meister gemacht wurde; oder dafs ein verletzter Arbeiter auf Kosten seines Arbeitgebers zu einer andern Thätigkeit, bei welcher die Verletzung nicht hinderlich war, herangebildet wurde. In dieser Beziehung wer den unzweifelhaft Aenderungen eintreten. Jeder Arbeitgeber hat lieber einen ganz gesunden, als einen verstümmelten Arbeiter. Die Heranbildung eines solchen zu einer anderen Thätigkeit oder