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Gedanken doch nicht gehorchen und immer wieder an der vergangenen Stunde haften. Er ging in den Garten, wo Gottiobe Blumen für einen Strauß schnitt und das Mäd chen nach Schmetterlingen haschte. „Gottlobe, Annelel" „Vater, komm, mit deinem Hut Krieg ich viel Schmetter linge." „Wir wollen ein Stückchen wandern, seid ihr dabei?" Annele kam gesprungen. Ob sie dabei war! „Mutti, schnell! Wohin denn, Vater? An die Elbe? Rach Rochwitz?" „Nach Rochwitz." Rach zehn Minuten stiegen sie schon den Garten hinauf. Oben in der Mauer hatte Grundmann ein kleines Türchen einbauen lassen, dahindurch gelangten sie gleich in den Laub wald. Sie lauschten den Vögeln, sie sangen selbst ein Lied chen, sie spielten mit Annele von Baum zu Baum Versteck, bis sie hinaus auf die freie Ebene traten. Ein frischeres Lüft lein strich hier oben, ein schöner Blick bot sich über das Elb tal, mit dem Häusermeer Dresdens, bis nach dem Erzgebirge und der Sächsischen Schweiz, über deren steile Sandstein torten sich bereits ein leichter rosa Schleier legte, dann über die wellige Ebene hin mit ihren Saatfeldern und kleinen Dörfchen und im Norden über die Heide. Sie gingen zwischen Saaten hin. Grundmann prüfte, ob das Korn gut bestockt habe. Gottlobe und Annele pflückten sich Mohnblumen. Dabei strebten sie einer Kirschallee zu, wo man, wie die angelehnten Leitern und die Wagen unter den Bäumen schon aus der Ferne verrieten, beim Pflücken war. Annele brauchte nicht lange zu bitten, bald hielt sie eine große Ieitungspapiertüte in den Händen und ließ sich die frischen, saftigen Früchte schmecken. Im Garten des Dorfgasthofes verzehrten sie ein einfaches Abendbrot. Von Herrn Heinrich wurde nicht gesprochen. Frau Gott lobe hatte ihn allein nach der Gartenpforte gehen sehen, da wußte sie genug, denn Grundmann begleitete jeden Freund bis dorthin. Auch bemerkte sie, als sie fortgingen, noch die strengen Falten in den Mundwinkeln und auf der Stirne ihres Mannes. Eins Bestätigung ihrer Annahme, daß die Beiden in Bösem auseinandcrgegangen seien. Es Ivar ihr lieb, daß es so gekommen war. Um einen unangenehmen, lästigen Gast trauert man nicht. Und dann freute sie sich, daß ihr Mann in der geeigneten Lage auch hart fein konnte. Grundmann war kein Schwächling, kein Träumer, wenn er auch gern die Dämmerpfade nach vergangener goldener Zeit wandelte, sondern ein Mann, — Gottlobe trieb dieses Spiel mit dem Namen —, ein Mann, der festen, gesunden Grund und klare Ziele hatte. Das hatte ja damals in Leipzig sie gleich für ihn einnehmen können. Aber dennoch: mehr Härte wünschte sie ihm, das hielt sie für die beste Wappnung gegen die jede ursprüngliche Art vernichtende Stadtunkultur. Dann bedurfte ihr Mann auch nicht mehr der Mauer, die er um sich herum aufgerichtet hatte, die konnte er dann schleifen. Gottlobe wurde zwar durch diese Mauer nicht beengt und beschränkt, blieb ihr der Weg zur Welt doch stets offen. Aber um Grundmanns willen wünschte sies anders und wohl auch um des Kindes willen. Annele sollte zu der freien Persön lichkeit erzogen werden, die den Gefahren nicht ausweicht und in jeder Welt besteht, wie die Mutter selbst. Denn Gott lobe fühlte sich frei und sicher, ihr konnte die Stadt nichts anhaben, und sie konnte das Dorf mit seiner Enge nicht ersticken, sie verstand überall zu leben, ohne von ihrem Ich zu opfern, sie war gegen die Heimatnot gefeit: denn sic war tatsächlich nicht heimatlos. Das machte, das Leben hatte auch keine Mauern um sie entstehen lassen. Ihr Mann freilich brauchte den Grund, aus dem er gewachsen war, darum hals sie ihm, in der Stadt das Mummelswalde aufrichten, aber er sollte aus diesem Heim auch frei mit der Fremde verkehren. Er sollte sich von der Heimat lösen und immer wieder auch zu ihr zurückkehren können, dann hätte er die Heimatnot überwunden. Mochte Grundmann also sich mit einem Auswuchs der Stadtwelt hart auseinandergesetzt haben, Gottlobe mit ihrer natürlich frischen, frohen Art glättete schon wieder seine Stirn, und in seinem Heim fand er wieder sein Glück. Auch heute kehrte er zufrieden zurück und konnte in seinem Stübchen noch gedeihlich an seinem Geschichtswerk arbeiten. 10. Kapitel. Auch Dr. Grundmann war im Herbste 1914 zum Heer eingezogen worden. Auf einem Dresdner Kasernenhofe lernte eralsLandsturmrekrutGehen, Hinwerfen, Anschlägen, Zielen, auf dem Heller den einfachen Gefechtsdienst. Er sang bei jedem Ausmarsch fröhlich mit: „Schießen, das ist meine Freud", doch genoß er nur die Freude des Schießens mit Platzpatronen: bis zum Scharfschießen kam er nicht. Erzog sich ein Nierenleiden zu und konnte nur noch für inneren Dienst verwendet werden. Da er aber in seinem Amt als Bibliothekar Bedeutenderes fürs Vaterland wirken konnte denn als Schreiber in einer Kammer, wo er die ausgegebenen Hosen, Waffenröcke und Stiefel notierte, entließ man ihn nach wenigen Wochen. So hatte er denn für des Vaterlandes Ruhm tatsächlich nicht mehr getan als Heinrich. Wenn dieser ihm aber Flau heit vorwarf, so tat er ihm unrecht. Dr. Grundmann nahm an dem gewaltigen Weltgeschehen steten lebendigen Anteil. Nicht nur, daß nach jedem großen Siege auch von seinem weißen Giebel die schwarz-weiß-rote Flagge wehte und daß er als kleiner Generalstäbler auf den Kriegskarten den Vor marsch der Armeen verfolgte, kleine Fähnchen steckte und ausrechnete, mann wohl nun die und die Stadt eingenommen, der oder jener Abschnitt erreicht, wo eine russische Armee eingeschlossen, wie eine andere Front ausgerollt werden würde — wer tat das nicht? — sondern er suchte mit heißem Bemühn nach der Erkenntnis des Sinns und der Notwen digkeit dieses Völkerkampfes. Er studierte die geschichtliche Entwickelung, aus der dieser Weltkrieg, der doch nicht die Folge des Ränkespiels einiger Deutschland hassender Köpfe sein konnte, entspringen mußte, er beobachtete, welche Triebe und Kräfte, die in friedlichen Zeiten geschlummert hatten, jetzt in den Völkern erwachten und sich auswirkten, wie Wirtschaft, Wissenschaft und Glaube durch den Krieg beein flußtwurden. Freilich, gar ost stand er vor dunklen Rätseln: während sich hier eine Entwicklung streng folgerichtig voll zog, griffen dort dunkle Schicksalsmächte in die Speichen und ließen das Rad nach unerkennbaren Zielen rollen. Dazu kam, daß auf politischem Gebiet über manchen Zusammen hängen die dichten Schleier des Geheimnisses ruhten, daß über die Vorgänge in der durch die Frontmauern von uns getrennten Welt wissentlich und unwissentlich falsche Nach richten verbreitet wurden, daß selbst über die Verhältnisse im eigenen Lande die Berichte sich fortgesetzt widersprachen und die Dementis an der Tagesordnung waren. Es war schwer, oft unmöglich, aus allem, was da geredet und geschrieben wurde, die Wahrheit herauszusinden. Auch heute beschäftigte er sich wieder mit den Kriegsoor gängen. Vor ihm auf dem Schreibtische lagen die „Tägliche Rundschau" der „Vorwärts" und ein blaues Hest der „Hilfe". Welches sind die Ausgaben der Volksvertretung im Kriege? (Fortsetzung folgt.)