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V. Preußen und das deutsche Reich. 979 als Muster neben die Alten zu stellen. Ohne Begriff von einen, freien Wachsthum der Poesie glaubte er, daß man bloS die Gesetze und Regeln der Dichtkunst zu erfinden brauche, um poetische Werke machen zu lernen, und trat daher keck nicht nur als Gc- schmacksrichter, sondern auch als Musterdichtcr und Wicdcrhcrstcllcr dcr dramatischen Poesie auf. Die feierliche Verbannung des Harlekin (Hanswursts) vom Leipziger Theater war das Signal, daß die bisherigen Volksschauspiclc mit ihren gemeinen Späßen und die abenteuerlichen „Haupt- und Staatsactioncn" mit ihrem „Mordspcctakcl" und ihrem Schwulst und Schmutz von der Bühne verschwinden sollten; kunstgerechte französische Dramen, in deutsche Alexandriner gekleidet, traten an die Stelle, bis (Gottsched selbst eine regelrechte Tragödie in französischem Geschmack: „der sterbende Cato", nach Addisvn's frostigem Stück „Cato", als Muster eines deutschen Originalschauspicls aufstclltc. Dieses wcrthlvse Stück, das in der von ihm veranstalteten deutschen Schaubühne an die Spitze gestellt ward, erlebte in Kurzem zehn Auflagen. Doch war cs den Bemühungen Gottsched's und der mit ihm befreundeten Schauspielerin Frau Karolinc Ncubcr, deren Mann die Leipziger Bühne leitete, zuzuschrciben, daß die Kluft geschlossen ward, welche so lange zwischen der Dichtkunst und Schauspielkunst, zwischen der höheren Bildung und dem volksthümlichcn Theater lag. Z. Gottsched und die Schweizer. Während im Norden Gottschcd's Worte wie Orakclsprüche verehrt wurden, erhob sich in der Schweiz gegen den pedan tischen Geschmacksrichter ein gewaltiger Sturm, der zur Folge hatte, daß sein Truggc- bäude umgcstürzt und er mit Hohn von dem angcmaßten Posten vertrieben wurde. In Zürich nämlich schaartcn sich um Joh. Jac. Bodmcr, einen beweglichen witzigen für alles Höhere empfänglichen Schriftsteller von vielen, wenn auch nicht gerade tiefen Kenntnissen und von großer Belesenheit in der Literatur aller Völker, eine Anzahl streb samer Männer, unter denen Joh. Jac. Breitinger durch Gelehrsamkeit und kritischen Scharfsinn hcrvorragte. Diese waren eben so tiefe Bewunderer der englischen Literatur, wie Gottsched der französischen, daher bald Reibungen zwischen beiden entstanden. Die Züricher, die einen literarischen Verein gebildet, gingen in ihren „Discurscn der Maler" den Wochenschriften und Zeitungen, die in Gottschcd's Diensten standen, zu Leibe. Dies ärgerte den Leipziger Professor und er trat daher, als Bodmer Milton's verlornes Paradies übersetzte, gegen den englischen Dichter und dessen religiöse Poesie in seinen kritischen Beiträgen mit scharfem Tadel auf. Diese Kritik war der Anfang eines folgen reichen literarischen Kampfes, worin man mit Ernst und Gelehrsamkeit, wie mit Spott und Satire das Wesen und Ziel der Dichtkunst zu ergründen und scstzusetzcn „suchte. Zu den Schweizern gesellte sich der kräftige, durch klassische und englische Literatur ge bildete Christian Ludw. Liscow (aus dem Schwcrinschcn), der mit einer bis dahin uner- hörten Schärfe des Spottes und der Ironie und in einer musterhaften deutschen Prosa bald gegen die orthodoxen Theologen, bald gegen die pedantischen Gelehrten und Schul männer, bald gegen die erbärmlichen Schriftsteller und kritischen Wochenschriften zu Felde zog. („Bon der Vortrcfflichkcit und Nothwcndigkeit elender Scribcnten.") Die derben Satiren eines Mannes, der als diplomatischer Agent des Herzogs Leopold von Mecklenburg, dann als Secretär der Minister Danckelmann und Brühl mit der vorneh men Welt vertraut war, mußten, da sie mit ihren Angriffen auf Gottschcd's Günstlinge ^ " den Meister selbst trafen, das Ansehen des gravitätischen Kunstrichtcrs gewaltig erschüt tern. Von den zahlreichen Schriften, die innerhalb fünfzehn Jahren von dm Schweizern gegen Gottsched und seine Ansichten gerichtet wurden und eine gänzliche Niederlage des selben zur Folge hatten, ist vor Allem Brcitingcr's kritische Dichtkunst zu erwähnen, in welcher ein den Gottsched'schcn Grundsätzen entgegengesetztes System ausgestellt ward. Entwickelt auch Breitinger in diesem System Ansichten, die beweisen, daß er von Kunst 62*