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970 O. Das achtzehnte Jahrh. in den vier ersten Jahrzehnten. 3. Die luthe rische Ortho doxie und der Pietismus. Wpencr 1U3S—1705. dachte." Aber als der französische Prälat die Tridcntiner Beschlüsse als die unwandel bare Grundlage der Kirche in Gegenwart und Zukunft erklärte, überzeugte sich Leibniz, daß jedes ircnische Streben erfolglos sei, so lange man in Rom die Protestanten als verirrte Abtrünnige ansehe, die nur durch reumüthige Rückkehr in den Schooß der allein seligmachenden Kirche Versöhnung erlangen könnten. Er brach die Unterhandlungen ab „mit dem Vertrauen, daß einst die Sache sich von selbst vollbringen werde." Der Uebcrtritt mehrerer fürstlichen Personen des braunschweig-hannoverischen Hauses, dessen wir früher gedachten, wurde diesen Unionsbcstrcbungcn und dem Ealixtinischen' Synkretismus der Hclmstädtcr Schule zugeschriebm. Das Gutachten eines gelehrten Professors dieser Universität, Johann Fabricius, soll den Religionswcchsel der Braun schweiger Fürstentochtcr Christine Elisabeth, Gemahlin Karls VI. und ihres Großvaters gefördert haben. Als er von dem Haffe und der Verachtung seiner ConfcssionSver- wandten getroffen sein Lehramt aufgab, wurde er zur Entschädigung mit der Aufsicht der Landesschulcn betraut. — Nicht viel erfolgreicher waren die Bestrebungen, eine Vereinigung der beiden protestantischen Confcssionen zu erzielen, so sehr auch durch den Ryswicker Frieden eine Verbrüderung aller akatholischen Religionsgcnossenschaftcn dringend geboten war. Die Bemühungen des brandenburgisch-prcußischcn Herrscherhauses, durch mildere Fassung der Untcrscheidungslehrcn eine Vereinigung anzubahncn, scheiterten an dem Eifer der lutherischen Geistlichkeit, welche die Hoffnung, daß auch die Calvinisten selig werden könnten, für „teuflische Eingebung" erklärte, und an der Hartnäckigkeit der evangelischen Landstände (S. 602j. Doch trat endlich die durch viele Einwanderungen von Calvinisten vermehrte rcformirtc Kirche gleichberechtigt neben die lutherische. So waren alle Unionsbestrebungen, alle die mannichsachen Versuche, durch Aufhebung oder Abschwächung der Unterschiede die Einheit der christlichen Kirche herzustcllen, „säst spur los vorübergehend aber wie eine Weissagung". Die schlimmste Wirkung der synkretistischcn Streitigkeiten war der übergroße Eifer, mit dem die orthodoxen Lutheraner die Untcrscheidungslehrcn vortrugen. „An die sitt lichen Wirkungen des Christenthums wurde nicht nur in diesem Streite nicht gedacht, sondern auch in den Predigten wurden mehr dogmatische Gegenstände polemisch behan delt, als eine sittlich wohlthätige Anwendung derselben empfohlen." Die Religion ward zur Sache des Verstandes, die weder einen sittlichen Einstich übte, noch innere Frömmig keit erzeugte, die Theologie zu einer neuen Scholastik ohne den philosophischen Scharf sinn der alten, ihre Folge „eine Erstarrung des Geistes, die nur in Streit und Ver ketzerung auslebte." Bei einer solchen Richtung der protestantischen Religionslehre war Gefahr vorhanden, daß über der dürren Orthodoxie und dem Glauben an den Buchstaben der symbolischen Bücher, die das Evangelium allmählich aus der Kirche verdrängt hatten, das christliche Leben und die Wärme des religiösen Gefühls ganz zu Grunde gehe, über der Reinheit der Lehre die Reinheit der Sitte und die Frömmigkeit des Herzens abhanden komme. Beides durch Wiederbelebung des Bibelstudiums zu erwecken, alle Christen zu einem allgemeinen Priesterthum zu erziehen, die Güter, welche Luther dem deutschen Volke errungen, aus der Verdunkelung zurückzuführen, war das Streben Philipp Jacob Spener's aus dem Elsaß, der in Straßburg fromm und freisinnig erzogen, in Frankfurt als Senior der evangelischen Geistlichen und in Dresden als Obcrhofprediger thätig war und als Propst in Berlin starb, und seiner Freunde und Anhänger. Von ihren Gegnern wegen übertriebener Kundgebung ihrer Frömmig keit im äußeren Leben und wegen ihres Drängens aus werkthätiges Christenthum gegenüber der herrschenden Lehr- und Bekenntnißgcrcchtigkcit als „Pietisten" verun glimpft, haben sie durch ihr Thun den Namen im Anfang ihrer Wirksamkeit zu Ehren gebracht. Die Hausversammlungen oder Bibclstunden, Lolla^ia pietsti« genannt,