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III. Deutsche Wissenschaft und Dichtung. 735 Protestantische Menschheit die Fesseln gesprengt, welche die Geister gefangen hielten. Wie sehr Geistlichkeit und Regierung die freie Bewegung zu hemmen, mit inquisitorischer Strenge die schmale Bahn consessioneller Orthodoxie einzuhalten bcinüht waren: der geistige Bann war gebrochen, das Prinzip der freien For schung in Glauben und Wissen errungen; der Strom des inneren Lebens konnte eingcdänmit und verzögert, nicht mehr aber zum Stillstand oder in rückläufigen Fluß gesetzt werden. Wenn in den Tagen, da man in Frankreich die calvinische Ketzerei mit barbarischen Maßregeln auszurottcn und in England mit Sophistik und Eidbruch den reformirtcn Kirchenbau zu untergrabe» suchte, einLeibniz den couciliatorischcn Gedanken einer Vereinigung aller Confessionen fassen, unter den Nachwirkungen kriegerischer Zerstörungswut!) eine „Theodicec" schreiben und im Weltganzen eine von Gott gesetzte „prüstabilirte Harmonie" erblicken konnte, so gibt dies wahrlich ein edles Zeugniß von der idealen Natur des deutschen Volkes und von dem hoffnungsreichen Glauben an eine höhere Vorsehung und an ein Fort- schrciten der Menschheit im Suchen und Ergreifen der Wahrheit. Dem genialen Philosophen war es nach seiner optimistischen Anschauung undenkbar, daß eine Welt, in welcher die Einzelwesen, die untheilbarcn Substanzen oder Monaden, die Gottheit oder die Urmonade abspiegeltcn, von der sie ansgcgangen, und sich, wenngleich mit verschiedenen Qualitäten und Erkenntnißkräften ausgerüstet »ach den von Anbeginn bestimmten Gesetzen der Nothwcndigkcit und Causalität bewegen und entwickeln, daß eine Welt, worin die mit Vernunft und Selbstbe- wußtscin begabte Mcnschenseele der Ursubftanz am nächsten steht, nicht unter alle» möglichen Schöpfungen die beste sein und das Nebel oder Böse Macht haben sollte über das Gute. Für de» Dienst der Musen war die Zeit wenig angethan; und dennoch wurden auch die Künste nicht ganz vernachlässigt. Im Kirchenlied wirkten Dich tung und Tonkunst zusammen, um die Gemüther über die Leiden des Erden- lcbeus zu erheben. Die alte Volkssprache und Volksdichtung, an sich schon unbeholfen und derb, war in den sturmvollen Jahren vollends in Gemeinheit Dichtung und Entartung versunken; wollte das deutsche Volk nicht hinter andern Nationen zurückstchen, so mußte die literarische Bildung in den Geschmack und die Bc- haudlnngswcisc der Renaissance eintreten. Und so fing man denn an nach dem Borbilde des Auslandes die Sprache zu veredeln; Martin Opitz gab durch Lehre und Beispiel den Anstoß, daß man die schönen Formen und die Vers- und Silbcmnaße aus dem Altcrthum und den romanischen Ländern in die deutsche Poesie einführte, den Naturalismus der früheren Zeit durch eine Kunstdichtung verdrängte, durch Ucbcrsctzungen und Nachbildungen fremder Dichtungen den eigenen Schatz mehrte und sich anstrcngte, in poetischen Leistungen nicht hinter den Franzosen und Niederländern allzusehr zurückzustchen. Und wie steif und barock Manches heut zu Tage erscheinen mag, wie matt und verkünslelt insbe sondere die den Italienern und Spaniern entlehnten Schäfergedichte und die der