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ver Kanzler in vremen Sin« Red« in der Bremer Handelskammer Berlin, 30. Juni. (Eig. Tel.) Reichskanzler Cuno traf am Freitag, von Elberfeld kommend, kur- nach I Uhr mittags in Bremen ein. In seiner Begleitung befanden sich der Reichsminister für den Wiederaufbau Albert, der Staatssekretär Hamm und Freiherr von Bebra. Am Nachmittag fand eine Sitzung der Bremer Handelskammer statt, an der der Reichskanzler tetlnahm. Auf eine Be- grüßungsansvrache des Vizepräsidenten Geheimrat Rodewald, in der er dem Kanzler da» Vertrauen nussprach, daß er das schwer in der Brandung arbei tende Reichsschiff sicher, wenn auch mit schweren Havarien in den schützenden Hafen zu bringen ver möge, antwortete Dr. Cuno in einer längeren An sprache. Der Kanzler gab seiner Freude Ausdruck, in Bremen denselben Geist der Treue zur Heimat und zum Reich anzutreffen, wie in Elberfeld und m anderen Orten der Westmark. Es sei zu erwarten, daß diese Front fest bleibe und auch noch Schwereres zu ertragen wissen werde, solange es nötig sei. Cuno hob hervor, daß er und seine Mitarbeiter mit dem Gedanken an die Regierungsgeschäfte herantretcn, vor allem die Be- dürfnisse der Wirtschaft zu berücksichtigen. So sei es auch sein erstes Ziel gewesen, auch in der Repa- rationsfrage zum reellen Nutzen beider Teile rein vraktisch und wirtschaftlich vorzugehen. Die in diesem Geisie für London und Paris gemachten Angebote hätten jedoch nicht zum I'ele geführt. So tief er davon überzeugt sei, daß auf die Dauer Deutschland nur bei wirklicher Beachtung der Lebens- bcdürfniffe nnd der inneren Gesetze der Wirtschaft gedeihen kann, ebenso entschieden müsse aber jetzt das volitilche Erfordernis bis zum guten Ausgange des Abwehrkampfes aufrechterhalten nnd alles andere hinangestellt wetden. Er verstehe sehr wohl, daß Maßnahmen, wie die Devisenverordnung, in den Kreisen der Wirtschaft hinsichtlich ihrer wirt schaftlichen Nützlichkeit onaezweifelt werden, er ver stehe das Drängen nach raschem Abbau der Ausfuhr kontrolle und ähnliche Maßnahmen. Jetzt aber komme cs darauf an, die Zuversicht des Noik's an den Staat aufrcchtzucrhalten und den Willen des Sraa- te» zu erweisen, sich unter allen Um- ständen und gegen alle Gefahren, sei es auch gegen die Wirtschaft, zu behaupten und den breiten Massen das Leben zu ermöglichen. Darum müsse die Wirtschaft für diese Zeit der Not auch solche Maß- nahmen auf sich nehmen. Hierauf besprach der Reichskanzler kurz die Er nährung s l a g e, für die die Aussicht nicht un günstig läge, und die Lohnfrage, dir so geordnet werden müsse, daß den Lohnempfängern auch in der Zeit des Sinken» der Mark das Auskommen ermög licht bleibe. Die Währungsfrage lege der Regierung die Pflicht aus, dafür zu sorgen, daß nicht aus dem Sturz der Mark eine Erschütterung der sozialen Orb- nung und eine Erschütterung de» Staates folge. Dr. Cuno schloß mit der Aufforderung, der Regierung Vertrauen entgegrnzubringen und ihr den Verfolg ihrer politischen Pflichten nach Kräften zu erleichtern. - Abend» fuhr der Reichskanzler nach Hamburg Mitxr, Senator Johnson in Berlin Berlin, 30. Juni. (Eig. Tel.) In Berlin ist der amerikanische Senator Hiram Darren Johnson eingetroffen, der mit seiner Gattin seit 4 Wochen in Europa weilt, ^un versönliche Ein drücke an Ort und Stelle zu sammeln und für seine politische Kampagne bei den amerikant- schen Wahlen im Juni kommenden Jahres zu ver werten. Ohne viel Aufsehen zu machen hat Senator Johnson inkognito in seinem Auto die zer störten und wiederaufgebauten franzä fi schen Provinzen bereist. In derselben unauf fälligen Form hat sich Senator Johnson ins Ruh r- gebiet begeben, um dort alle Schichten der Be völkerung kennen zu lernen und sich aus eigener Anschauung ein Bild von der Ruhrbesetzung zu machen. Senator Johnson hat weder in Paris, noch in London eine publizistische Erklärung über seine Reise abgegeben, will auch in Berlin seine Zurückhaltung als bloßer Beobachter aufrecht erhalten, bis seine Studien abgeschlossen sind. Bestätigte Neichstagsman-ate Berlin, 30. Juni. (Eig. Tel.) Das Wahlprü- fungsgericht des Reichstages wies heute nach einem sttaatsrechtlich-iuristischen Referat des Reichsgerichts, rat» Dr. Buff den Einspruch de» deutschvölkischen Abgeordneten von Graefe gegen die Doppelwahl des Abgeordneten Kahl (D. Dp.) rn Berlin und Miin- chen — al» Nachfolger des Edlen von Braun — als unbegründet zurück und erklärte das Mandat des Abgeordneten Kahl für München für gültig. Auch da» Mandat Dr. Ben neck es, der an Stelle Dr. Kohl» für den Berliner Wahlkreis in den Reichstag eingetreten ist, wurde bestätigt. Angebliche Sektgelage der fachfischen Minister Dresden, 30. Juni. (Eig. Tel.) Ein großer Presseprozeß fand vor dem Dresdner Schöffengericht seinen Abschluß. Di« Anklage war erhoben worden von den siichstschen Ministern gegen den ver- antwortltchen Schriftleiter Hugo Meyer der Sächsischen Landerzeitung wegen öffentlicher Beleidigung. In der Sächsischen Landeszeitung waren eine Reihe sehr scharf kritischer Artikel gegen die sächsischen Minister erschienen, an deren Person und Amtstätigkeit scharf Stellungnahme geübt wor den war. U. a. trat al» Zeuge der Wirtschaftr- minister Fe Hi sch auf, dem beispielsweise die Be- teiligung an einem Sektgelage vorgeworfen wurde, während das Volk darbe. Dor dem Eintritt in die Verhandlung versuchte der Amtsgerichtsrat einen Vergleich zustande zu bringen. Wirtschaftsminister Fellisch betonte, er habe kein Interesse an einer Bestrafung. Ihm liege nur daran, festgestellt zu wissen, daß er kein Sekt- geloge veranstaltet habe. Auch der Angeklagte war zu einem Bevaleich einverstanden, wenn gleichzeitig auch die Strafanträge der übrigen Minister damit ihr« Erlsdiguna fänden. Da aber der Wirtschaft»- Minister Fellisch für seine Kollegen keine Erklarung obzugeben vermochte, wurde in die Verhandlung eingetreten, und die fraglichen Artikel wurden filmt- lich verlesen. Der Angeklagte bestritt jede Absicht Tiner Beleidigung. In der Urteilsbegründung Wurde ihm aber vorgeworfen, im Preffekampf dürfe Ddar nicht jede« Dort auf die Goldwag« gelegt werden, andrerfeit» aber hab« der Angeklagte den Boden der sachlichen Kritik verlassen und au» poli tischer Gegnerschaft allzu persönliche Angriffe unter nommen. Das Urteil lautete gegen den Redakteur Hl»go Meyer auf 100000 Mark Geldstrafe. Der Ehrharbl-Prozetz Wie wir von maßgebender Seite erfahren, sind alle Blättermeldungen, die den 8. Juli mit Sicherheit al» Termin für den Lhrhardt-Prozeß angeben, un- richtig. Damit fällt auch die Mitteilung der L. N. N., die von einer gleichzeitigen Verhandlung am 8. Juli über die Mitangeklagten Prof. Dr. Karl Schlöffcr in Schaftbach in Oberbayern, Prinzessin Margarethe von Hohcnlohe-Oehringen und Leutnant a. D. Franz Lindig, beide aus München, die Ehrhardt Hilfe ge- leistet haben sollen, zu berichten wußten. Es ist äußerst wahrscheinlich, daß der Prozeß nicht am 8. Juli, sondern erst vierzehn Tage später stattfinden wird. Keinesfalls steht aber der genaue Termin heute schon fest. privat-ozent Dr. Rüge München, 30. lluni. (Gig. Tel.) Die so zialdemokratische Münchner Post richtete heute eine Anfrage an die Polizeidirektion, ob es wahr sei, daß der Privatbozent Dr. Rug e, der durch seine separatistischen Bestrebungen in Bayern schon vielfach von sich reden gemacht hat und im Fuchs-Machhaus-Prozeß als Zeuge unvereidigt vernommen wurde, unter dem Verdacht der A n- stiftung zum Mord an dem Studen ten Baur verhaftet worden ist. Baur war eine zeitlang Privatsekretär des Rüge und als solcher mit der Organisation der nationalistischen Tscheka beschäftigt. Wie noch in allgemeiner Er innerung sein dürfte, wurde Baur im März er mordet und später als Leiche in der Isar auf gefunden. Der Mörder, der Stuben Zwen- gaucr, wurde vor einigen Tagen verhaftet. Die Polizcidirektion hüllt sich in dieser Ange- legenheit noch in Schweigen und erklärte znr Anfrage der Münchner Post bisher nur, daß sie in den nächsten Tagen Näheres mitteilen werde. Eine neue Markstützung Berlin, 30. Juni. (Eig. Te l.) Das Präsidium des Reichsverbandes der Deutschen Industrie hat sich bereit erklärt, die Industriellen aufzufor dern, von neuem Dollarschatzanweisun gen zu zeichnen. Damit entspricht die groß- industrielle Organisation einem Appell, den der Reichskanzler an Industrie und Handel gerrcbtet hat. Es handelt sich dabei um eine neue Mark stützungsaktion. Der Zusammenbruch der letzten Markstützungs- aktion hat bekanntlich damit begonnen, daß die auf 200 Millionen Goldmark berechnete Dollarschatz, anleihe nur zur Hälfte gezeichnet wurde. Die Ban- ken, die die Gesamtsumme von 100 Millionen garan tiert hatten, haben erst nach dem letzten katastrophalen Marksturz die noch ausstehenden 28 Millionen Gold- mark-Dollarschatzanweisungen abgestoßen. Der Appell des Reichskanzlers zielt auf eine neue Dollarschahanleihe hin. Die Aktion darf man mit der Zusage des industriellen Präsidiums als eröff net anschen. Die Vertreter des Handels werden am Montag zu dem Ersuchen des Kanzlers Stellung nehmen. * Anmerkung der Redaktion: Auf Grund der Erfahrung, die mit der ersten Dollarschatzanleihe gemacht worden ist, kann man bis auf weiteres das neue Angebot nur mit dem Vorbehalt be grüßen, daß diesmal die Tat nicht hinter den Versprechungen Zurückbleiben werde. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß eine neue Ent- täuschung auf diesem Gebiete mit dem Fort bestand des Ministeriums Cuno unvereinbar wäre, und cs ist daher anzunehmen, daß die Re gierung sich diesmal ausreichende Gewähr dafür verschafft hat, daß die Großindustriellen ihr Wort einlösen werden. Streik in -er Berliner Metallindustrie? Die Urabstimmung in den Betrieben der Groß- Berliner Metallindustrie über den gefällten Schieds spruch, der einen Stundcnlohn von 6500 Mark vor- sieht, ist am Freitag beendet worden. 80 Prozent der Metallarbeiter haben sich gegen den Schiedsspruch und für den sofortigen Streik ausgesprochen, den auch die Funktionäre empfohlen haben. Wenn nicht in letzter Stunde noch ein Vergleich möglich ist, ist damit zu rechnen, daß der Streik am Montag proklamiert werden wird. Meine politische Nachrichten Nach längerer Pause trat am Freitag der Reichswirtschaftsrat wieder zu einer Voll- sitzung zusammen. Der Vorsitzende Leipart gedachte bei Sitzungsbeginn des verstorbenen ersten Vorsitzen- den Edlen von Braun. An dessen Stelle tritt von Siemens, der mit 212 bei 2 Stimmenthaltungen zum geschäftsführenden Vorsitzenden gewählt wor den E * Der Verlag der Sächsischen Landes zeitung, die wegen ihrer politisch rechts gerich- teten Haltung dreimal beschlagnahmt und zweimal verboten worden ist, ist nach München verlegt und mit dem dortigen Wochenblatt Friedericns ver einigt worden. * In der letzten Sitzung des mecklenburgischen Land- tag» wurde der Apotheker Hennecke au» Waren mit 31 Stimmen der Linken zum Finanz minister gewählt; außerdem wurden 26 unbeschrie bene Zettel abgegeben. Frankreich wird auf der kommenden Tagung de» VSlkerbund»rate« durch -anotaux ver- treten sein. Hanotaux wurde beauftragt, dem Völker bund vorzuschlagen, die Gehälter des Völkerbunds sekretariat» und dr» internationalen Arbeit-rare»' einer Revision zu unterziehen. In Paris ist ein Camelot du Rot, der vor kurzem einen radikalen Rechtsanwalt mißhandelt hatte, von der Pariser Strafkammer zu 2 Mo naten Gefängnis verurteilt worden. * Ramsey Macdonald, der Kreits Vorsitzen- der Unterhausfraktion der englischen Arbeiterpartei ist. wurde auf dem Londoner Parteitag der Ar beiterpartei auch zum Vorsitzenden der gesamten Parral gewählt poincare und der Papst Die Ruhrkredite vom Senat genehmigt Pari», 30. Juni. (Eig. Tel.) Der Senat hat gestern einstimmig die Regierungsvorlage über die Kredite für die Ruhraktion genehmigt. Der Radikale Börenger betonte als Berichterstat ter, daß die im Ruhrgebiet erzielten Einnahmen der Rcparationskasse zugeführt werde», während die Kosten der Aktion ans dem französischen Staatssäckel bestritten werden müßten. Bärenger erwähnte auch den Papstbrief und erklärte, man müsse bezweifeln, daß die diplomatische Vertretung Frankreichs beim Vatikan einen Zweck habe. Die Mehrheit des Senats unterstrich diese Feststellung mit stürmischem Beifall. Poincar 4 erklärte, die Ruhraktion „für das Aus. land, für die weltlichen, wie für die geistlichen Mächte" rechtfertigen zu wollen. Er gab dann die bekannte französische Version der Vorgeschichte des Einmarsches in das Ruhrgebiet wieder und hob mit Nachdruck hervor, daß in Spa auch Lloyd George und Nitti der eventuellen Besetzung des Ruhrgcbietes zuge stimmt hätten. Die Ruhraktion sei eine Garantie gegen die gewollte Zahlungsunfähigkeit Deut chlands, ihr einziger Zweck sei die Ausübung eines w rksamcn wirtschaftlichen Druckes. Der deutsche Widerstand sei nicht passiv, sondern aktiv, hinterlistig und verbreche- risch. (Beifall.) Im Auslande und besonders beim Vatikan, wo auch Irrtümer Vorkommen (Heiterkeit, Zustimmung), mache man sich nicht immer klar, daß dieser Widerstand auf die Großindustriellen und besonders, auf die Reichsregierung zurückzufüh ren sei. Frankreich hätte auf die Hinrichtung Schla- geters lieber verzichtet, aber schärfste Maßnahmen seien durch die Art des Widerstandes notwendig ge worden. Poincarä trat dann der Behauptung ent gegen, daß Frankreich die Ruhrbcvölkerung anshun- gern wolle, Alle Gerüchte von Meinungsverschieden heiten zwischen Tirard und General Dcgouette seien falsch. Ium Schluß sagte Poincarä: Deutschland rechne auf Wunder, würde aber getäuscht werden. Frankreich und Belgien blieben dabei, daß die deut- schen Vorschläge erst nach Einstellung des Widersinn- des geprüft werden (Beifall), und daß die Räumung des Ruhrgebietes nur nach Maßgabe der deutschen Zahlungen erfolgt. (Langanhaltender Beifall.) Hierauf sprachen noch die Vertreter der einzelnen Parteien, die ihre Zustimmung zu der Regierungs- Vorlage gaben und fast durchweg gegen die »Per- kennung der gerechten Sache Frankreichs" durch den Vatikan protestierten. Var französische vu-get angenommen Pari», 30. Juni. (Eig. Te l.) Die Kammer hat heute früh gegen 2 Uhr nach einer neuen Nachtsitzung den Regierungsantrag auf Ausdehnung der Gültigkeit des Budgets von 1823 auf das nächste Jahr mit 420 gegen 168 Stimmen und gleich darauf das gesamte Budgetgesetz mit 457 gegen 83 Stimmen angenommen. Der radikale Abgeordnete Herri ot bekämpfte die Regierungs- Vorlage in der Schlußdebatte, gab aber zu, daß ein Teil seiner Parteigenossen für die Vorlage stimmen werde. Po ine ar 6 trat persönlich für den Rs- gierungsantrag ein und betonte dabei ausdrücklich, daß die Regierung nicht an die Einführung des Iweijahres-Budgete denke, sondern ausnahmsweise im Hinblick auf die vielen im Herbst zu erledigenden Vorlagen einer neuen endlosen Budgetdebatte vorbeugen wolle. Der Regierungs. antrag wurde auch non dem früheren Kriegsminister Andrä Lefevrc bekämpft, dessen Erwägungen in den Satz gipfelten: Sie wissen nicht, was der Franken nächstes Jahr wert sein wird. Sanktionen wegen einer Schmuggler Schießerei Cronenberg, 30. Juni. In der vergangenen Nacht zwischen 12 und 1 Uhr fand vor dem französischen Wachtlokal eine Schießerei zwischen französischen Soldaten und wahrscheinlich deutschen Schmugglern statt. Der französische Komman dant gab dem Bürgermeister auf, nach den Deutschen zu fahnden und sie bis zum 2. Juli namhaft zu machen. Jeder Straßenverkehr zwischen 8 Uhr abends nnd 5 Uhr morgens wurde für Cronenberg verboten. Wenn die Nachforschungen ohne Ergebnis bleiben, sollen weitere Sanllionen verhängt werden. * Der Kreisdelegicrte von Gerolstein hat Stadtvertretern gegenüber geäußert, er werde die Stadt Gerolstein derartpeinigen,daß kc in Mensch mehr dort leben mag. Er werde Gerolstein im wahren Sinne des Wortes zu einer toten Stadt machen, wenn der Widerstand der Be- amten nicht aufhöre. Gerolstein hat bereits die Hälfte seiner Einwohner durch Massenausweisungcn verloren. Lloyd George verteidigt -en Versailler Vertrag London, 30. Juni. (Eig. Tel.) Lloyd George wiederholt in seinem heutigen Leitartikel im Daily Lhronicle noch einmal die Argumente seiner Rede in Oxford zugunsten des Vertrages von Versailles. Man dürfe den Vertrag nicht ausschließlich auf Grund der finanziellen Best im- mungen beurteilen, die weniger glücklich seien, sondern man müsse an die Befreiung der Dänen, Elsaß-Lothringer und der Polen denken und man müsse dem Vertrag zugute halten, daß er den Völker- bund und das internationale Arbeitsamt ins Leven gcrusen habe. E» sei nicht zulässig, den Vertrag, ohne ihn im ganzen gelesen zu haben, nur auf Grund de» Buche» von Keynes über die Reparation», bestiounungen bereit» in Bausch und Bogen zu ver- urteilen. Polen Die neue Negierung und die öffentliche Meinung Au» Warschau, Ende Juni, wird un« ge- schrieben: Das Programm der W i t o s - N e g i e ru n g und die parlamentarische Erörterung der Regierungs. erklärung standen in den letzten Wochen im Vorder- gründe des öffentlichen Interesses. Die Rechts presse spricht von dem Beginn einer neuen Periode in Polen. Es sei ein Umschwung zur Gesundung der inneren Verhältnisse eingetreten, indem man aus dem Zustande unsicherer und provisorischer Regierun- gen herausgelangt sei. Darin zeige sich der Sieg des demokratischen Gedankens, der die Bildung verant wortlicher Regierungen auf Grund fester Programme fordere. Die Regierungserklärungen wurden von den rechtsstehenden Zeitungen allerdings nur mit kühler Freundlichkeit ausgenommen. Ein Teil von ihnen besprach sie überhaupt nicht, andere hoben hervor, daß der Charakter der neuen Regierung auch eine Gc- währ für die Durchführung des Programmes biete, jedoch dürfe die Öffentlichkeit keine Wunder voin neuen Kabinett verlangen, denn es müsse erst in langer Arbeit die Fehler der früheren Regierungen gutmachen. Die Presse der Linken hob den farblosen Charak ter der Regierungserklärung hervor, die hinter nichtssagenden Redensarten das wahre Programm der Negierung zu verbergen suche. Die bürgerlichen Zeitungen, vor allem die Kurjer Poranny, suchen dos Kabinett dadurch zu diskreditieren, daß sie behaupten, nur die Unterstützung der nationalen Min derheiten hätte dem Kabinett -um Siege ver halfen. Die sozialistische Presse sieht in dem Witos-Kabinett eine reaktionäre, arbeiterfeindliche Regierung, die man mit allen Kräften bekämpfen müsse. In den Plättern aller Richtungen fragt man sich, ob die neue Mehrheit wohl ausreichend sei, um auf sie ein Kabinett stützen zu können. Die linksstehcn- den meinen, daß die inneren Gegensätze in der jetzigen Parlamentsmehrheit sich im Laufe der Zeit ver schärfen und ihren Zerfall hcrbeiführen würden. Was die Außenpolitik betrifft, so glaubt fast die gesamte Presse, daß in ihr keine Aenderung eintreten werde. Nur vereinzelt wird es als un günstig bezeichnet, daß der Außenminister Seyda seine Politik noch mehr als sein Vorgänger in engster Abhängigkeit von Frankreich durchführen werde. Politik und Kunst Es» Denkmalsentwurf von Fanatikern zertrümmert Wien, 30. Juni. (Eig. Tel.) Der Entwurf des Denkmals für die Auslandshil?c, das von Professor Ernst Lichtblau ausgeführt und von der Jury mit dem ersten Preis bedacht worden war, ist gestern im Künstlerhaus, wo die 70 ange- meldeten Modelle ausgestellt sind, zertrümmert worden. Die Hetze des Dildhauerverbandes gegen -en von Professor Peter Behrens, Hofrat Hellmer und anderen als Jury gefüllten Spruch hat um so mehr die Politik in diese Kunstfrage hineingezogen, als Professor Lichtblau als Motto für seinen Denk malsentwurf „Die Schuld der Habsbur ger" gewählt hatte. Das Blatt der Schwarzgelben, die Staatswehr, hatte in einem Aufruf gesagt „Reichsdeutsche Kulturschändung in Wien" un- ins- besondere den Architetcn Peter Behrens für die Prä miierung des Lichtblauschcn Entwurfes verantwort- lich gemacht. Gestern kam wohl nicht zufällig eine Gesellschaft von empörten Besuchern zusammen, von denen ein Architekt namens Aufh Luser zuerst mit dem Ausruf: „Das gehört nicht hierher!" den Beifall hervorrief. Auchäuser versetzte dem Postament einen Tritt, so daß der Denkmalsentwurf gegen die Wand stieß. Dann riß ein Unbekannter den Gips vom Bronzeaufbau herunter und zer- schlug ihn auf dem Boden. Der Portiere des Künstlerhauses, der den Lärm hörte, hatte zwar so fort die Ausganystoren gesperrt und Polizei herbei- gerufen, aber der wahre Schuldige war zu feig, um sich zu melden. Es ist eine politische Strafhandlnng cingeleitet. wieder auf dem toten Punkt Die unsterblich« Orientkonferenz Lausanne, 30. Juni. (Eig. Tel.) Die Orient konferenz ist wieder auf dem toten Punkt angelangt. Aus einer Konferenz zwischen den Alliierten und den Türken ist sie seit einigen Tagen zu einer rein interalliierten Konferenz ge- worden, in der sich die französischen, die englischen und die italienischen Delegierten untereinander zu einigen suchten, während die Türken ungeduldig und unbeschäftigt beiseite stehen. Gestern trat sogar auch innerhalb der alliierten Delegationen Ruhe eia, da von neuem das Schwergewicht der Verhandlung von Lausanne nach den alliierten Hauptstädten verlegt worden ist. Die alliierten Bevollmächtigten erklärten gestern Ismet Pascha auf seine sehr dring liche Aufforderung nach einer schnel len Entscheidung, daß sie neue Instruktionen erwarten, und die Kabinette gegenwärtig hierüber berieten. Auf die Frage Ismet Paschas, wre lange dieser Zustand der Untätigkeit noch dauern werde, konnte keine Antwort erteilt werden. Hierüber ist in den Kreisen der türkischen Abordnung eine große Verstimmung entstanden. Man rechnet indessen damit, daß in zwei bis drei Tagen die Kcn- fercnz wieder in ein flotteres Tempo geraten dürfte. Vernehmung -es Belgrader AttentSterr Belgrad, 30. Juni. (Eig. Tel.) Auf Grund der polizeilichen Untersuchungen über das Attentat gegen den Ministerpräsidenten Pasitsch ist anzu- 'nehmen, daß der Attentäter ganz auf eigene Faust und ohne Verbindung mit einer politischen Organisation gehandelt hat. Nach seinen Aeußerungen hat sich der Attentäter bi» kurz vor dem Anschläge auf den Ministerpräsidenten gar nicht mit einem derartigen Gedanken befaßt gehabt. Dieser sei ihm erst gekommen, al» er af«. Vormittag in der Nahe de« Finanzministeriums l»ien kleinen Spaziergang unternahm und ein Aä.v au» de- Skuptschtina herausfahren sah. .