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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 01.07.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-07-01
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192307017
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19230701
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19230701
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-07
- Tag 1923-07-01
-
Monat
1923-07
-
Jahr
1923
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Sonntagsbeilage äes beipriger Tageblattes kir. LonotLg, üea 1. /ull - 8eite S Zern Don P»-Io tbisn Meinem Herzen fehlt nichts Und es ist bedrängt. Meinem Leib fehlt nichts Und er ist beengt. Was klimmt in mir und ist verstimmt? Mich frißt etwas, das in mir sitzt. Fünf Jahre sah ich dich nicht. Drei Jahre schriebst du mir nicht. Das macht mich alt. Ich umfasse mein Knie Und sitz und seufze mich tot. Der Wein ist rot. Was trink ich ihn nicht? Rot ist der Wein, Wenn nicht mit dir — Mit wem sollt ich mich freun? * Aus den uns ;ur Verfügung gestellten Aus hängebogen der bei Ernst Rowohlt, Berlin, er scheinenden. in der Staatlichen Akademie für graphische Künste in Leipzig überaus schön ge- druckren, ersten deutschen Ausgabe der Verse des chinesischen Dichters Pe-lo-thien (772 bis 846) in der Nachdichtung von Alben Ehren- stein. Das Trapez Don Lrwln N. RalnaUar Seinerzeit, als man in Neapel Gastspiele gab, waren die Brüder Tonelli zu dec Zirkustruppe ge stoßen, und der Direktor hatte, indem er sie enga gierte, eine gute Nase bewiesen. Vorher waren die Geschäfte schon bedenklich flau gegangen, dem Publi kum, das immer nach Neuem und Unerhörtem, nach Sensationen und atembeklemmenden Wagestücken hungerte, waren die dressierten Pferde, die Clowns und Jongleure, die Kugelläufer und Seiltänzer nach gerade langweilig geworden; sogar die strammen Trikots der Artistinnen übten nur geringe An ziehungskraft, weil die weiblichen Mitglieder der Truppe schon jenseits der Grenze waren, wo man in schmunzelndem Behagen an freigebig zur Schau ge stellten körperlichen Reizen der aufgebotenen Kunst- fertigkeit milde Nachsicht entgegenbringt. Der Di rektor, wenn er allabendlich die mageren Ziffern des Kassenrapports Revue passieren ließ, machte ein be kümmertes Gesicht: „Kinder", sagte er in schmerz lichem Humor, „es nützt nichts, wir gehen flöten, wenn wir keine Attraktion kriegen." Dieses melan cholische Bekenntnis schien das Schicksal zu rühren. Die Attraktion kam. Die Brüder Tonelli und Made moiselle Margherita traten in den Zirkus ein. Der Trick der Tonelli war in der Tat sehenswert, mehr noch, er war aufpeitschend, er rüttelte an den Nerven, er würgte einen an der Kehle. Hoch oben, in der Kuppel des Zirkuszeltes, wurdep zwei freischwin- gcnde Trapeze angebracht, fast durch die ganze Breite der Manege von einander entfernt, Carlo und Gino kletterten an Seilen empor, vollführten auf der dünnen, schaukelnden Stange, gleichsam um die Fe stigkeit zu prüfen, einige belanglose Turnerkünste, dann ließ sich Carlo plötzlich fallen, fing sich mit den Fußspitzen wieder auf, so daß er, nur von den Zehen getragen, mit dem ganzen Körper frei kopfabwärts hing, und während die Musik plötzlich abriß und eine furchtbare Stille sich über den Zirkus lagerte, zeigten die beiden dies außerordentliche Wagnis; indes man ihre Trapeze in heftige Schwingung versetzte, warf sich plötzlich auch Gino in den leeren Raum vor, daß ihn nur die Füße trugen, schwang sich mit zuneh mender Geschwindigkeit, schnellte schließlich mit un geheurer Wucht vorwärts und zurück, ließ sich, wäh rend ein Schrei aus tausend gepreßten Kehlen von unten emporbrandete, vom Trapez fallen, flog wie ein schlanker, schmaler Vogel durch den Raum, schien zu stürzen, zu sinken, zu gleiten, wurde von Carlo, dessen Hände sich ihm entgegenreckten, an den Hand gelenken gepackt und aufgefangen, beide aneinander hängende Körper flogen noch ein paarmal unter der Wucht des Anpralls in kleiner werdenden Schwin gungen durch die Luft, die Musik begann ihren Blechlärm wieder, die Menschen da drunten atmeten auf und fühlten wohlige Schauer über den Körper rinnen, und droben auf dem Trapez saßen Carlo und Gino Tonelli nebeneinander, wischten sich den Schweiß aus den Gesichtern und lächelten in die Tiefe. Dies waren die beiden Tonelli, dies das Wage stück, das den Zirkus beinahe vor dem Ruin bewahrt hatte. Im übrigen wußte man nicht viel von ihnen. Daß sie keine Brüder waren und sich nur zu ihrer Produktion unter demselben Namen zusammen- gefunden hatten, schien, wie sich herausstellte, gewiß zu sein. Vielleicht — wer weiß es? — waren sie nicht einmal Italiener? Fest stand nur dies eine, daß die blonde Mademoiselle Margherita, deren Reize das weibliche Personal des Zirkus aufgefrischt hatten und der man um ihrer schlanken Jugend willen die Harm losigkeit ihrer Pferdevoltiguen gern nachsah, Gino gehörte. Ob sie sein Weib war, ging niemand etwa« an. Genug an dem, daß Gino, der Starke, vor diesem Weibe zum Kinde wurde, daß er von rührender Be hutsamkeit sein könnte, daß er ihr eine fast hündische Liebe und Treue darbrachte und jeden zärtlichen Blick fast demütig als Geschenk entgegennahm. Die Sache war nur die, daß solche zärtliche Blicke ihm nicht eben oft zuteil wurden, wie man sich unter den Kol legen blinzelnd erzählte: ja man ging weiter, man fand Grund, von der schönen Margherita Dinge zu tuscheln, die amüsanter noch wurden durch die Ahnungslosigkeit Gino». War es in der Tat erhört, daß ein Mensch so verblendet sein konnte und an den unumstößlichsten Tatsachen vorbeiging? Wahrhaftig, jeder, der seine gesunden Augen im Kopfe hatte, mußte sehen, wie es eigentlich um Margherita und Carlo stand, wie da eine lohende Flamme zwei Men schen in ihre Glut riß. Was war wohl der Grund, daß Gino nicht» sah? Wollte er blind bleiben? Wer wußte da«? Keiner, o keiner hätte e» auf sich genommen, Gino die Augen zu öffnen. Aber insgeheim warteten all« mit wohligen Gruseln de» Tage», der einmal kommen mußte und wo die Spannung, lange geschürt und gesteigert, sich entlud. Der Tag kam, Gino war nicht blind. Man war damals in einer oberitalienischen Stadt, wo die Brüder Tonelli, die fliegenden Menschen, Sensation machten wie überall. Die Vorstellungen waren aus- verkauft, man hatte gute, fette Tage, und an jenem denkwürdigen Abend war cs nicht anders. Die Pank reihen waren gepreßt voll, draußen warf eben der Jongleur, auf dem ungesaltelten Pferdcrücken flöhend, seine Kugeln, als man aus dem grünen Wagen, der den Tonellis als Garderobe diente, einen Schrei hörte. Die Artisten, die schon im Kostüm umher standen und ihrer Nummern warteten, rannten hin zu und sahen in dem trüben Dunkel, das die Petro leumlampe spärlich durchdrang, zwei Leiber aufcin- anderlicgen, so schwer ringend, daß sie ineinander ganz verbissen schienen. Man erkannte, daß Gino es war, der mit der ganzen Wucht seines Körpers Carlo niederhiclt; seine Hände krampften sich nm den Hals des Gegners, und sein Antlitz hatte nichts Mensch liches mehr, so grauenhaft verzerrt war es in seiner Wut. Im Hintergründe lehnte Margherita, und ihre Augen starrten aus der umrahmenden Schminke ent setzt auf die beiden. Man riß die Kämpfenden voneinander, die sich langsam aufrichteten. Carlo taumelte, er röchelte nach Atem, sein Gesicht war fahl und seine Augen hingen in namenloser Wut an Gino. Und schon schien er sich auf Gino werfen zu wollen, als im Zelt ein neues Musikstück cinsctzte und der Direktor atemlos herein- stürzte. „Carlo, Gino, ihr kommt dran!" schrie er. Heilige Mutter Maria, das Publikum wartete auf die Tonellis, auf ihren unerhörten Trick. Man er schauerte, alle, die da zusammengedrängt standen, verfärbten sich. „Unmöglich", murmelte der kleine Clown, der Gino am Arm zurückhielt, „unmöglich, es wäre ein Verbrechen!" Aber Gino selbst stieß ihn zurück. „Gehen wir", sagte er heiser. Man wich zurück, zwischen scheuen, entsetzten Augenpaaren schritt er hindurch, und Carlo folgte ihm langsam. Sie traten in die Manege. Das Publikum raste vor Applaus, als sie er schienen, es verstummte und reckte die Hälse, als sie behende an den Seilen zu ihren Trapezen empor turnten. Drunten, am Eingänge zur Manege, stan den die Artisten, verfolgten mit Grauen die beiden, wir sie oben anlangten, ein wenig pirouettierten, um die Geschmeidigkeit ihrer Gledcr zu prüfen, dann ihre Körper vorwärts fallen ließen und an den Fuß spitzen hingen. Indes die Musik jäh abriß und Toten- stille über das Zirkusrund hereinficl, hörte man den Clown sein „Misericordia" murmeln. Aber niemand achtete darauf, alle blickten zur Höhe empor, sie sahen, wie Gino seinen Körper schwang und schnellte, bis er federnd durch den Raum flog, wie er, mit einem leisen Pfiff, das Trapez von sich stieß, die Luft im Fluge durchschnitt — „Misericordia!" stammelte wieder der kleine Clown, der die Augen wegwandte, „er wird ihn morden, er wird ihn zerschmettern..." Er klammerte sich an den neben ihm stehenden Kunst reiter: „Stürzt er? O Madonna!"... „Er ist bei ihm", sagte der Kunstreiter, „er will ihn fassen.., bei Gott, er gleitet ab, die eine Hand greift in die Leere..." Auch er taumelte zurück. Man hörte das Atmen der angstvoll starrenden Menschen. Es lag eine fast hörbare Stille über dem Raum... Der Kunstreiter fuhr sich über die Stirn, seine Brust hob sich wie im Kampf: „Carlo reißt ihn an sich, er hak sich ihm entgegengeworfen, er hält ihn, aber nun ist er selbst mit einem Fuß abgeglitten... beim blutigen Heiland, wie er arbeitet..." Die Totenstille sang weiter durch den Zirkus. Der Clown stand noch immer an den Kunstreiter geklammert, aber der Kunstreiter schwieg, als wären ihm die Worte in die Kehle gepreßt. Jetzt, jetzt mußte dieser gräßliche Schrei kommen... warum kam er nicht? Sekunden gingen, die Stille lastete noch immer. Da hob der kleine Clown den Blick langsam vom Boden, seine Augen wagten sich in die Höhe. Gr sah, daß hoch droben, auf Carlos Trapez, das noch immer stür misch schwang, die beiden Tonelli nebeneinander saßen und aus aschfahlen Gesichtern ins Parkett nie- derlächelten, aus dem wie eine plötzliche Flut namen loser Jubel zu ihnen emporbrandcte. Und während die Musikanten losschmetterten, kletterten sie wieder auf den Boden herab, auf dem sie taumelnd standen. Hinter ihnen sprengte, auf dem Pferde stehend, die schöne Margherita in die Manege und warf lächelnd Kußhände ins Publikum. Am nächsten Morgen brach der Zirkus sein Zelt ab, um wieder auf die Wanderschaft zu gehen. Die Ortsbewohner, die den Arbeiten zuschauten, sahen betrübte Mienen, und der Direktor ging unter seinen Leuten finster wie ein Dompteur umher. Was war geschehen? Ach, das Aergste, was nur immer hätte passieren können: Carlo und Gino waren verschwun den, durchgebrannt, und mit ihnen die schöne Mar gherita. Mit welchem der beiden Tonelli mochte sie nun in die Welt hinausgefahren sein, Wem war sie in dem stummen Kampf auf dem Trapez zugefallen? Müßige Frage. Fest stand nur, daß diese furcht bare, verderbliche Lücke nun da war. Der kleine Clown zwar sagte mit leisem Schauer zum Kunst- rciter: „Ich danke der Madonna; ich hätte die zwei nie mehr auf dem Trapez sehen können..." Aber der Direktor fluchte ingrimmig: „Wir gehen vor die Hunde, unsere Attraktion ist dahin... Hätten doch alle beide den Hals gebrochen..." Im Nebel Don »lonvsri ckaequs» Ein Fischerkutter von Finkenwärder fuhr einmal irr Nebel die Elbe hinab der Nordsee zu. Der Motor knurrte in fröhlichem Gleichmut, so trübselig auch die Elbe ihn in ihre graue Einsamkeit eingeschlossen hielt. Der Fischcr lag in der Koje. Seine Frau schälte Kartoffeln und stritt mit ihm. Oben hockte der Kochjunge am Bug und blie» ins Horn vor dem Nebel, der die Luft dick wie Drei machte. Aber am Steuer saß Wenzel Klopisch, ein Bursche aus dem Süden der Elbe. Er saß rittlings über die Reeling und blie», während er das Steuer mit beiden Hanben hielt, auf der Mundharmonika, als sei sie ihm aus den Lippen gewachsen. Bald verließ die Frau des Fischers die Kabuse und stieg die kleine Treppe hinauf. Sie ging in dem Nebel nach hinten. Der Kochjunge blies weiter ins Nebelhorn, aber die Mundharmonika schwieg. Statt ihrer erscholl ein süße», heimliche« Geflüster vom Steuer her und siebte sich durch den Nebel wie durch ' Tücher. Bon Weile -u Weile überstieg ein Auflachen das Geflüster, und eine wirbelnde Reihe von Tönen entklirrte der Mundharmonika, kurz und toll. Dann schmatzte sich ein Kuß durch die schleimige Luft. Der Kochjungc zog den Atem ein und spitzte das Ohr. Der Fischer steigerte sich in einen solchen Aergcr hinein, daß er die Frau wieder an Bord genommen hatte. Es war immer »„friedlich, wenn sie mitfuhr. Waren die Männer jedoch allein auf der Fahrt, so unterhielten der Wenzel mit seiner Mundharmonika und seinen Späßen und die Rumbuddel sie aufs un gestörteste. Sobald aber das schwarzhaarige Biest mitmachte, war alle Gemütlichkeit zum Teufel. Der Fischer steigerte sich in einen solchen Aergcr hinein, daß er nicht mehr so ruhig daliegen mochte. Er wollte der Frau nach und den Zank fortsctzen, um seinen Zorn loszuwerdcn. Er erhob sich und ging in den Socken zum Kochraum, jedoch sie war nicht da. Dann stieg er die sechs Stufen hinauf und steckte den Kopf zum Schcinleit hinaus. Der Nebel saß aber wie Labskaus um seine Augen. „Teufel nochmal!" knurrte er. Aber sein Fluch wurde in ein Geräusch aufgefan- aen, das vom Steuer herkam. Er versuchte durch den Nebel nach hinten zu schauen, aber er sah kaum noch den Klüverbaum über sich. Er hielt das Ohr hin. Zwei lachten, die Mundharmonika schnellte einen Juchzer in den Brei der Luft, und die Geräusche folgten sich aus dem Unsichtbaren. Der Fischer war tete und alles wiederholte sich. Da trat er wieder in die Treppe hinein und ging hinab. Er griff in den Zeugkasten. Sein Herz schlug so hart, wie seine beiden Hände, die Nägel und Stemmeisen faßten, die in der Kiste durcheinanderlagen. Er riß aus dem Haufen eine massive, alte Harpune heraus, stieg damit an Deck und stellte sich breit und fest in den Nebel. Und als wieder die Mundharmonika lostrillerte und das Schmatzen durch den Nebel kam, war es ihm, als ob der Brand seines Herzens die Harpune Hochrisse. Er warf sie mit gewaltigem, rohem Stoß, und die Musik verstummte. Dann holte er unter der Treppe die Stiefel hervor, zog sie über und ging zum Steuer. Er fand es von den beiden befreit und nahm cs in die Faust, die vom selber gehaltenen Gericht noch wild war und zitterte. Oer Guckkasten Don Ssorx «armann Ich weiß es noch, als ob es gestern gewesen wäre, trotzdem es jetzt nun schon eine gute Weile her ist. Acht Tage lang hatte man nur von ihm gesprochen, und endlich kam er auch — der Onkel aus Fürsten berg. Ein ganz echter Onkel, wie Onkel Paul, war er ja nun nicht, sondern eigentlich nur so ein angc- heirateter Schwager von Mutters Schwester. Ich fah heimlich aus dem Fenster; Onkel stieg aus dem Wagen und zankte sich mit dem Kutscher über den Fahrpreis, während Anna seinen Koffer herauftrug. Gott, was war das für ein merkwürdiger Onkel! Klein und rund, wie mein Gummibaü, sah er aus. Und sein Gesicht nun erst; es glänzte ja, wie unsere Messingkcsselü Drinnen hatte Mutter schon decken lassen. Nein — wie viel Onkel essen konnte! So etwas hatte ich noch nicht gesehen, und Mutter, anstatt ihm kurzweg zu sagen, daß er nun endlich genug haben könnte, tat ihm immer wieder und wieder von dem guten, dampfenden Gänsebraten auf. Aber, als ich noch etwas nachhaben wollte, da hieß es ganz einfach, ich sollte hinuntergehen. Am Nachmittage spielte ich gerade unter dem Eß tische mit Murmeln, als Onkel zu Mutter sagt: „B'schen," — so nennt sie auch Onkel Paul immer — „zieh' mir den Jungen fein an, ich will mit ihm ins Opernhaus gehen." Dann kriecht Onkel zu mir unter den Tisch, greift mich mit beiden Händen um den Leib und schüttelt mich ordentlich. „Bist du schon 'mal im Opernhause gewesen, Junge? Na, du wirst ja staunen, so etwas Schönes kannst du dir gar nicht vorstellcn. Denke nur, eine richtige Königin tritt da auf — mit einer goldenen Krone und ein Ritter mit einer Rüstung aus lauter Kuchenbretzeln. Da gehen wir — wir beide jetzt hin." Und wirklich, Anna zieht mir den blauen Sammet anzug mit den Ankerknöpfen an. Die Matrosenmütze muß ich aufsetzen, und sogar die Schuhe werden mir noch einmal geputzt. Und Mama nickt uns aus dem Fenster nach. Wie ich mich aber freue, ich hüpfe nur so neben Onkel her. Onkel geht ganz langsam, setzt die Füße nach auswärts und pustet bei jedem Schritt. Was das aber heute für eine weiche Luft ist, und der Himmel: ganz hellblau sieht er aus. Die Linden haben wohl gestern erst ihre Blätter entfaltet; fast so hübsch sind sie, wie die, welche mir Mutter immer aus grünem Seidenpapier ausschneidet. Um die Domkuppel jagen sich schreiende Schwalben. Alle Leute schlenkern vergnügt mit den Armen, und so viel pfeifenden Laufburschen bin ich auch noch nie begegnet. „Höre mal, mein Söhnchen," beginnt Onkel klein laut, „eigentlich hast du ja noch kein Verständnis für die Oper. Es ist ja sehr nett da, aber sie singen alles. Ich will dir einen besseren Vorschlag machen, mein Junge, wir gehen zusammen ins Schauspielhaus, da ist es noch viel schöner, da kommen zwanzig Soldaten auf die Bühne, richtige, lebendige Soldaten." „Ach ja, Onkel, ins Schauspielhaus!" stimmte ich mit Freuden zu. — Ich bin von jeher mit allem zu frieden gewesen. „Weißt du, „König Lear", das ist ja eigentlich noch gar nichts für dich; dafür bist du noch viel zu klein. Und sieh' mal, morgen hast du alles wieder vergessen aber, Georg, ich will dir eine wirk ¬ liche Freude machen, von der du was hast. Wir beide kaufen uns jetzt beim Konditor Weise einen Marzipan- papagei." „Einen Marzipanpapagei!' Ich schreie vor Der- gnügcn. Seelenverqnügt hüpfe ich neben Onkel her. Plötzlich bleibt er wieder stehen, legt mir beide Hände auf die Schultern und sieht mir in die Augen. „Sage mal! Sage mal! Hast du denn eigentlich schon bei Kranzlcrs Eis gegessen? — NeinL Dann gehen wir zu Kranzlcr. Vanilleeis ist ja das Feinste vom Feinen, da« schmeckt tausendmal besser wie do» beste Marzipan; aber du darfst es nicht kauen und mußt nur ganz kleine Stückchen nehmen und die dann ganz langsam auf der Zunge zergehen lassen. Da» Ci« von Kranzler ist ja so berühmt, da laßt sich sogar der Kaiser von China alle Jahre tausend Pfund schicken." Eis! Eis! Ja, davon hatte ich schon viel gehört — es sollte ja so wunderbar schmecken. — Das war gewiß nur etwas für sehr reiche Leute. Plötzlich hält Onkel an, als ob er sich noch auf etwas sehr Wichtiges besänne. „Höre mal, mein lieber Junge," er legt mir väter lich die Hand auf den Kopf — „eben fällt mir ein. wir könen ja gar nicht zu Kranzler gehen. Eis ist nämlich noch gar nicht gesund für dich. Da erkältest du dir nur den Magen, und deine Mutter, Georg, die macht mir ewige Vorwürfe, wenn du krank würdest. Die Verantwortung darf ich keinesfalls übernehmen." Ich ziehe ein Gesicht. „Und dann, Herrgott, daß ich das vergessen konnte. Kinder unter fünfzehn Jahren dürfen ja gar nicht zu Kranzler; das hat vorigen Monat die Polizei verboten! Pass' auf, wenn wir zu Kranzler gehen, kommt der Schutzmann und nimmt dich mit. Und das willst du doch nicht, aber" — er ging mit mir über den Damm — „hast du denn schön einmal in einen Guckkasten gesehen? — Ach, das ist ja wunder schön, noch viel, viel schöner, als die ganze Oper und das ganze Theater — wie das Schneewittchen da im Glassarg liegt und die böse Stiefmutter sich in dem Spiegel sieht. Nein, das muß man sehen, das kann man sich so gar nicht vorstellcn." Ja, so ein Guckkasten, das wäre schon etwas! Drüben steht ein uralter Mann mit einem schnee weißen Bart, wie der liebe Gott. Er hat nur ein richtiges Bein und einen Stelzfuß wie unsere Spül- bank. Vor ihm ist so eine Art schwarzer Leierkasten auf einem Holzstühlchcn aufgebaut. Eine Unmenge ' Kinder umringen ihn in lautloser Erwartung. Ehrfürchtig machen sic vor Onkel und mir Platz, der alte Mann nickt mir so recht vergnügt zu und dreht eilfertig an einer Schraube seines Kastens. „Kann der Kleine mal hier in den Guckkasten sehen?" „Jawoll! Jawoll!!" „Was kostet es denn!" „Man eenen Iroschcn!" Onkel dreht sich ganz schnell auf den Hacken herum. „Ah! Is mich zu teuer!!" Aus den Novellen und vcrmischicn 2ck>riflcn des tiinfteu Bandes der Gcsammclicn Werke von Georg Hermann, di« in einer schönen Aus gabe in der Deutschen Verlagsanstalk Stuttgart erschienen sind. Oer Tanz im heutigen Rußland Die Sowjet-Machthaber, die sonst nicht eben von dem Ehrgeiz geplagt werden, als Schützer der alt russischen Tradition eine Rolle zu spielen, betätigen sich in der Pflege des russischen Balletts noch zari stischer als die Zaren. Hierüber erfährt mar: inrer- essante Einzelheiten aus einer Unterhaltung, die die derzeit in Mailand gastierende Tänzerin Mana sipowa, eine der Großen vom ehemaligen kaiserlichere : Ballett in Moskau, die als klassische Tänzerin auch heute am dortigen bolschewistischen Theater die erste' Rolle spielt, mit Arnal do Lipolla von der „Stampa" hatte. „Der Tanz", so erklärte Frau Pcssipowa, ist heute in Rußland sozusagen die Grundlage des öf- fentlichcn und privaten Lebens. Man macht sich schwer einen Begriff von der Wichtigkeit, die der Tanz für das neue Rußland hat. Lin Fremder möchte in der fiebernden Begeisterung der Russen für den Tanz heute nur ein Symptom der anormalen Verhältnisse sehen, unter denen wir leben. Das trifft indessen nicht zu; denn der Tanz ist für uns heute die einzige anständige Unterhaltung, die wir uns noch verschaffen können. Sie wissen, daß die Zaren viel für das Ballett übrighatten und aus ihren Privatmitteln die großen Tanzschulen der kai serlichen Theater in Moskau und Petersburg unter hielten, die heute „große Staatstheawr" heißen. Aber die Bolschewisten haben viel mehr als die Zaren getan; denn sie haben den Tanz zum Rang einer staatlichen Institution erhoben. Um Ihnen einen Begriff von der Bedeutung zu geben, die die großen abendfüllenden Balletts haben, brauche ich nur darauf hinzuweisen, daß die Eintrittspreise für die Vorstellung, die wir unter dem Namen „Kon zerte" geben, die der Oper um 25 Prozent überstei gen, auch wenn dort Schaljapin singt. Unsere Haupt einnahmequellen fließen aus der Unterrichtsertei- lung. Ich hatte in Moskau Hunderte von Schüle rinnen. Ich hätte Tausende haben können, wenn cs mir die Zeit gestattet hätte, alle anzunehinen, die sich zum Unterricht meldeten. Sie müssen sich ver gegenwärtigen, daß in Rußland die sog. modernen Tänze, die paarweise getanzt werden, so gut wie un bekannt sind. Die Sehnsucht von allen geht nur dar auf hinaus, sich im induviduellen, klassischen Ballert- tanz auszubilden. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, daß neun Zehntel der jungen Mädchen, die man auf der Straße ficht, in ihrer Handtasche Dallettschuhe tragen. Heute, da Lunartscharski durch finanzielle Schwierigkeiten gehindert ist, sein Programm im The ater durchzuführen, hat er sich der Jugenderziehung zugewandt und den Unterricht im Tanz in allen rus sischen Schulen als obligatorischen Lehrgegenstand eingeführt. Wir ersten Balletteusen sind zu Inspek- torinnen dieser Tanzkurse ernannt. Wir sind über haupt heute als Staatsbeamte stark in Anspruch ge nommen und müssen uns ständig bereit halten, auf Lunartscharskis Aufforderung in den großen Fabri- ken vor den Arbeitern zu tanzen. Der Dolkskom- missar legt weiter Wert darauf, daß wir von Zeit zu Zeit in den Gefängnissen Ballettvorstcllungen ver anstalten, natürlich nicht in denen der „Tscheka", wo die politisch Verdächtigen in Untersuchungshaft sitzen, sondern in den Gefängnissen der Derurteiltten, wo das Orchester Lunartfcharski zumeist von den Gefangenen selbst gestellt wird."
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