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den Weg gekommen, hatte ihn hcrangelotst und ihrer Tochter vorgestellt I „Referendar Rolling, ein alter Freund unserer Fa milie." Annalies hatte zwar diesen Namen in ihrem Leben noch nicht gehört, so daß sie nicht recht ivußte, wie sie diese alte Familienfreundschaft erwidern sollte, — aber das war ja vorerst gleichgültig, wenn die Bekanntschaft nur währen des Ballabends durchhielt. Der Referendar holte bald seinen Freund, den Kaufmann Becker, hinzu, dieser hatte noch einen Bekannten, der wieder einen und so war Annalies eine der begehrtesten Damen der Gesellschaft. Mamas Gesicht strahlte vor Wonne: so hatte sie es sich gewünscht, ja die Wirklichkeit übertraf ihre kühnsten Träume. Annalies tanzte, tanzte und tanzte. Sie wanderte von einem Arin in den andern, aber was ihr ihre Tänzer zu er zählen hatten, interessierte sie gar nicht. Tast es draußen nicht mehr so kalt sei und geschneit habe, davon hatte sie sich schon selbst überzeugt, daß sie reizend aussehe, hatte ihr Mama erzählt, daß sie gut tanze, !var nicht wahr, gerade das Gegenteil war der Fall. Da war sie dann heilfroh, als sie während einer Pause mal dem Gewühl des Saales entschlüpfen und nach dem Wintergarten gehen konnte. Auf dem Wege dahin kam sie an einem kleineren Rebensaal vor bei, dessen Türen geöffnet waren. UwvillkUrlich warf sie einen Blick hinein. Da, — sie traute ihren Augen kaum, — da saß an einem Tisch recht vergnügt Inspektor Kretsch mar und ließ sich eine Flasche Rheinwein schmecken. Der hatte die Augen Äeu auch erhoben, stand auf und begrüßte sie mit einer devoten Verbeugung: „Amüsieren sich hoffent lich gut, gnädiges Fräulein?" Annalies war so verblüfft, daß sie zuerst gar keine Antwort fand. Dann aber raffte sie sich zu der Gegen frage auf: „Wie kommen Sie denn hierher?" „Aber gnädiges Fräulein werden entschuldigen: ich habe Sic mit der gnädigen Mama doch heut Abend nach der Stadt gefahren. Fräulein Annalies sagten mir doch, daß nur der tüchtigste Kutscher fahren sollte. Und da ich der beste Fahrer auf dem Gut bin, bin ich in den Kutscherpelz gekrochen und habe Sie hergefahrcn. Da habe ich die Ga rantie, daß auf der Rückfahrt auch kein Malheur passiert und daß die Füchse geschont und gut verfüttert werden. War schon zweimal im Stall und habe mich überzeugt, daß sie trocken und warm stehen." „Ich danke Ihnen, Herr Kretschmar," antwortete Annalies etwas verwirrt, dann lvandte sie sich zum Gehen: „Dank für Ihre Aufmerksamkeit!" „Nicht Ursach', gnädiges Fräulein, . . . amüsieren Sie sich man bloß gut." In Gedanken versunken schritt Annalies den Korridor bis zum Ende entlang. Das Ivar doch noch ein Mensch von schlichtem Edelmut, dieser Inspektor, vor dem konnte man wohl alle Achtung haben. Es galt ihm nichts, in grimmer Kälte auf dem Kutschbock zu sitzen, um sic wohlbehalten und sicher wieder zu Haus zu bringen. Da wurde ihr Schritt gehemmt durch lautes Lacheu, das aus der ersten Separee- Rische des Wintergartens an ihr Ohr schlug. Zwei Herren unterhielten sich laut und der Korken einer Scktpulle flog krachend empor. „Aber Mensch," lachte der eine, „Ivie konntest Du mich denn zu diesem aufdringlichen Weibe führen? Die bietet ja ihre Tochter aus wie sauer Bier." „Ja, mein Bester," belehrte ihn der andere, „die Ollsche ist ein unangenehmes Beigcmüse. Dafür ist aber die Anna lies um so leckerer." „Ganz nettes Kindchen, 'n richtiges Ballkücken! Grün, harmlos, unerfahren. Schon 'nen Stich ins Dumme." Annalies war leichenblaß geworden. Sie hatte durch eine Oeffnung in die Portiere gesehen, daß der eine der jungen Herren, die so über sie urreilren, der Referendar, der „alte Freund der Familie" und der Kaufmann Becker waren. Annalies machte kehrt und ging den Gang wieder zurück. Der Inspektor hatte sich eben ein neues Glas ein- geschänkt. „Ich möchte sofort nach Hause fahren," erklärte Anna lies. Humor out äer Lanättrahe- Erster Landstreicher: „Nanu, Du hast heute ja ganze Stiefel an?" Zweiter Landstreicher: „Ja, der moderne Luxus wirft auch in unsere Kreise seine Wellen." „So früh schon?" staunte der Inspektor. „Wollen sich denn gnädiges Fräulein nicht noch amüsieren?" „Ich werde mich nur amüsieren, wenn Sie sofort an spannen lassen," entgegnete Annalies mit ganz besonderem Nachdruck. „Wenn Fräulein befehlen . . ." „Ich befehle Ihnen gar nichts, ich bitte Sie darum—" Zwischen Mama und Tochter gab's in einem Winkel des Ballsaales eine kurze aber energische Auseinandersetzung. Dann fuhr der Wagen vor. Noch ehe die Damen einstiegen, trat Fräulein Annalies an den Kutscherbock heran, reichte dem Kutscher die Hand und sagte mit von Tränen erstickter Stimme: „Sie sind ein guter Mensch, Herr Kretschmar . . ." Der Schlag flog zu, die Pferde zogen an und trabten, von einer sicheren, zielbewußten Hand geführt, dem heimat lichen Gute zu. Eine Visitenkarte, die Referendar Nolling am nächsten Tage auf dem Gute abgab, wurde dankend zurück gewiesen. Das gleiche Schicksal hatte eine solche des Kauf manns Becker. Inspektor Kretschmar soll gestern Fräulein Annalies den ersten Kuß gegeben und ausgerufen haben: „Ach Du mein Ballkücken I"