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Wunderglauben und Medizin Man trifft auch heute noch unter den Patienten und gelegentlich unter dem medizinischen Personal Auffassungen an, die sich nicht mit der medizinischen Wissenschaft vereinbaren lassen. Mit den der Redaktion übermittelten nachfolgenden Beiträgen setzen wir heute den in unserer letzten Ausgabe eröffneten Meinungsaustausch zum Problem „Wunderglauben und Medizin“ fort, da uns daran gelegen ist, unwissenschaftliche Vorstellungen überwinden zu helfen, die bei der Anwendung der modernsten Erkenntnisse der Wissenschaft und bei der Verbesserung der medizinischen Versorgung der Bevölke rung ein Hemmnis darstellen können. Um die Zusendung weiterer Meinungen bittet Ihre Redaktion W enn von Seiten eines Vertreters des Fachgebietes Neurologie und Psy chiatrie nochmals zum Thema .Wunder glauben und Medizin" Stellung genom men wird, so keinesfalls deshalb, weil etwa zwischen Psychiatrie und diesem Thema besonders enge Beziehungen be stünden. Es geschieht vielmehr, weil dieses Thema zu unserem Leidwesen trotz Technisierung und zunehmender Wissenschaftlichkeit auch heute noch in Medizin und Psychologie aktuell ist. In der Februar-Ausgabe des „Akade- mie-Echos" haben Dipl.-phil. E. Bauer und Dr. E. Peper zu diesem Thema Stel lung genommen. Dr. Peper kam es im wesentlichen darauf an, zu zeigen, welche Bedeutung Okkultismus und Personals neben der mangelhaften Kenntnis der Geisteskrankheiten darin zu suchen, daß man glaubt, sie seien durch naturwissenschaftliche Methoden nicht oder nur bedingt zu erkennen oder zu heilen. Mit anderen Worten — sogar in den Köpfen des medizinischen Personals geistern noch Überreste eines antiquierten Wunderglaubens herum. Ganz abgesehen von den in den er wähnten Artikeln bereits angesproche nen okkultistischen Tendenzen kann man auch in der alltäglichen medizini schen Krankenbehandlung immer wie der Überreste des Wunderglaubens er leben. Denken wir z. B. an das Verhält nis des Kranken zu dem ihm verord neten Medikament. Der Kranke, der Menschen vor Wunderglauben und Mystizismus behüten! Wunderglaube in der Geschichte der Psychiatrie haben. Wer vertreten in Fortsetzung dieser Auffassungen die Überzeugung, daß auch in der modernen Gesellschaft, sogar in einem Lande, das, wie die DDR, besonders auch auf wissenschaftlichem Gebiet in den letzten Jahren grofse Fortschritte erreicht hat, immer noch Überbleibsel von Aber glaube und Wunderglaube in den Köpfen vieler herumgeistern, was zum Teil nicht unerhebliche Auswirkungen u. a. auf die verschiedensten Gebiete der medizinischen Wissenschaft hat. Um zunächst bei der Psychiatrie zu bleiben, sei nur daran erinnert, welche Stellung der psychisch Kranke vielerorts und häufig noch in seiner unmittelbaren und weiteren Umgebung hat: er gilt als verrückt. Das Wort „verrückt" (ver - rückt) be inhaltet ja im üblichen Sprachgebrauch zumindest unterbewußt die Ahnung, daß ein Mensch durch irgend etwas Un durchschaubares in seiner geistigen Verfassung gegenüber dem Normalen weggerückt oder verrückt worden sei. Man sieht sich üblicherweise in weiten Kreisen der Bevölkerung als hilf- oder machtlos an, weil geglaubt wird, es handele sich hierbei um eine dem nor malen oder gesunden menschlichen Empfinden nicht zugängliche - man sagt es nicht, aber glaubt doch: über sinnliche Erscheinung, gegen die man nichts machen kann. Sogar in medi zinischen Kreisen gilt, man sollte es nicht glauben, der psychisch Kranke oft noch als nicht verstehbarer Außenseiter, seine Gedanken werden als .Spinnen" bezeichnet, er gilt als eben .verrückt". Die sich aus einer solchen Auffassung ergebende Haltung bewirkt zum Scha den des Betroffenen, daß er zusätzlich zu der von ihm in den meisten Fällen selbst als unangenehm oder absonder lich erlebten Geistesstörung noch da durch psychisch belastet wird, daß man ihn ausklammert, daß man ihn „zur Seite stellt' oder in die Psychiatrische Klinik „abschiebt". Ohne Zweifel ist die Ursache für eine solche Haltung medizinischen nur in den seltensten Fällen - wenn er ein entsprechendes Fachwissen besitzt - die naturwissenschaftlich erklärbare Wirkung der betreffenden Arznei er kennen kann, fühlt sich dem Medika ment sehr oft in eigenartiger Weise ausgeliefert. Es gewinnt für ihn etwas Besonderes; es gelangt zu außerge wöhnlicher Bedeutung, weil damit etwas geheilt werden soll, was sich seinem rationalen Denken und Ver stehen bislang - als Widerfahrnis, als .schicksalhaft", als schuldhaft verur sacht, als Strafe für Unterlassung usw. - gegenüberstellte. Für ihn gewinnt so mit die verordnete Medizin über dem ihr innewohnenden naturwissenschaftlich erklärbaren Wirkungsmechanismus etwas nahezu Übersinnliches und in besonderer Weise Bedeutungsvolles: er glaubt daran. Gehen in diese Gefühle noch politische Haltungen ein, so erklärt sich, daß bei manchem immer noch das Westmedikament das auf jeden Fall wirksamere sein muß, ganz gleich, ob es ein chemisch und pharmakologisch völlig identisches Präparat aus eigener Produktion gibt. Aus dieser Haltung erklärt sich auch, daß sich mancher Kranke, statt auf ver nünftige Weise etwa seine Be lastungen, seine Ernährungsweise, seine körperliche Betätigung so zu ver ändern, daß ein Optimum an Gesund heitsgefühl entsteht, dem Dämon Me dikament unterordnet und bei etwa durch fehlerhafte Lebensweise hervor gerufenen funktionellen Alltagsbe schwerden beginnt, in ständig zuneh mendem Maße die verschiedenartigsten Tabletten zu schlucken. Es ist auch in dieser häufig zu beobachtenden Verhal tensweise nichts anderes zu sehen als die Auswirkung mangelhafter natur wissenschaftlicher Kenntnis oder Über zeugung, womit der Boden bereitet wird zu mystischen Haltungen und Vor stellungen. An einem besonderen Beispiel soll versucht werden zu erklären, wie sich okkultistische Meinungen in den Köp fen ausbreiten können. Es gibt eine in der neurologisch-psychiatrischen Fach sprache durchaus bekannte Erschei nung, das Dejä-vu. Bei einem Dj-vu- Erlebnis hat man das Gefühl, das so eben Gedachte oder Erlebte bereits früher einmal in der gleichen Weise gedacht oder erlebt zu haben. Es han delt sich hierbei ohne Zweifel um eine Erscheinung, die sich aus gestörter Funktion der höheren Nerventätigkeit, normalerweise oft bei starker Er müdung, erklären läßt. Sieht sich ein Mensch, der diese Zusammenhänge nicht kennt, jedoch einer solchen Er scheinung gegenübergestellt, so kommt er oft zu der Auffassung, es handele sich hierbei um übersinnliche oder magische Kräfte, die sich auf ihn aus wirkten. Auch in anderer Weise begegnet man im Alltagsleben immer wieder Auf fassungen, die sich aus mangelhafter medizinischer Allgemeinkenntnis oder medizinischer Aufklärung ergeben. Es fühlen sich die Menschen, wenn alltäg liche, durch Überbelastung oder Konflikte hervorgerufene Befindensstörungen auf treten, vom Wetter beeinflußt, von den Sonnenflecken, von Atombomben-Ver- suchsexplosionen oder - spezifisch für Dresden - von der Rossendorfer Radio aktivität, die vor allem freitags in der Luft liegen soll. Geht man den Dingen auf den Grund, so stellt sich folgendes heraus: Es werden von den Betroffenen alltägliche Befindensstörungen, die sich aus dem persönlichen Gesundheitszu stand oder der Lebensweise ergeben, mystisch gedeutet, weil ihnen diese Ur sache nicht bekannt ist. Dieses, und nicht das von vielen Menschen maßlos überschätzte Wetter oder die nachge wiesenermaßen für solche Störungen absolut belanglose minimale Radio aktivität der Luft oder das Kernfor schungsinstitut Rossendorf - das selbst verständlich freitags keine radioaktiven Dämpfe abbläst - sind die Ursachen solcher Beschwerden. Bedenkt man die Auswirkungen sol cher mystischen Fehldeutungen, so wird klar, daß hier auf dem Gebiet der me dizinischen Volksaufklärung ein großes Aufgabengebiet, im besonderen vor allen Angehörigen medizinischer Be rufe, steht. Die Aufgabe des sozialisti schen Gesundheitswesens besteht natür lich primär darin, Krankheiten zu hei len oder zu verhüten, sie besteht aber im weiteren auch darin, durch geeig nete Aufklärung die Menschen davor zu behüten, daß sie in Wunderglauben oder Mystizismus verfallen und da durch sowohl in ihrem Lebensgefühl als auch in ihrer Arbeitsleistung behin dert werden können. Aus diesen Gründen scheint es durch aus zweckmäßig und nützlich, wenn das .Akademie-Echo' in einer Diskus sion zum Thema .Wunderglauben und Medizin' Stellung nehmen läßt und da mit dazu beiträgt, daß in der Medizini schen Akademie Dresden, dem wich tigsten Zentrum der medizinischen Ver sorgung im Bezirk Dresden, diesbezüg lich etwas in Gang kommt, was sich für die Bevölkerung unseres Raumes nur günstig auswirken kann. OA Dr. Seidel 1 m „Akademie-Echo' vom Februar 1964 I erfolgte eine Diskussion zur Problema tik .Wunderglauben und Medizin". Der folgende Beitrag soll eine Ergänzung aus der Sicht des Psychologen darstel len. Jedem Arzt ist bekannt, daß bei einem großen Teil von Erkrankungen neben einer medikamentösen und physikalischen Therapie auch eine ent sprechende psychische Führung des Patienten notwendig ist, um einen opti malen Heilungserfolg zu erzielen. Der Patient muß über den Willen zur Hei lung verfügen bzw. es muß dieser Wille geweckt werden. Das setzt vor aus, daß ein echtes Vertrauensverhältnis nicht über dieses ärztliche Wissen, das eine verantwortungsbewußte Beurtei- lung im Sinne einer Diagnose voraus» setzt. Sie betreiben auch in solchen Fäh len, in denen eine erfolgreiche Therapie beispielweise nur durch ärztliche Maß nahmen möglich ist, vorwiegend Psychotherapie. Es dürfte allgemein verständlich sein, daß eine Appendicitis in die Hand des Chirurgen gehört und nicht psychotherapeutisch vom Heil praktiker behandelt werden kann. Feststellungen dieser Art sollen je doch nicht dazu führen, die Psychothe rapie, wie bereits ausgeführt, grund sätzlich abzulehnen. Voraussetzung für sie ist jedoch der Ausschluß anderer, Die Bedeutung der psychischen Beeinflussung zwischen Arzt und Patient besteht und der Arzt Einblick in die Lebens- und Interessensphäre seines Patienten hat. Diese Voraussetzungen waren beispiels weise optimal bei den sogenannten Hausärzten gegeben, wie sie auch jetzt wieder durch die Besetzung von staatlichen Praxen und Ambulanzen mit Ärzten, die längere Zeit am Ort verblei ben, angestrebt wird. Dadurch ist es möglich, daß der Arzt oft auch einen tiefen Einblick in die Familienverhält nisse seiner Patienten erhält. In solchen Erkrankungsfällen, in denen psychogene Faktoren dominieren, ist die psychische Beeinflussung des Patienten besonders wichtig. Erfolgt diese systematisch und verfügt der Arzt über entsprechende Spezialkenntnisse auf diesem Gebiet, spricht man in die sen Fällen von Psychotherapie. Voraus setzung hierfür ist, daß ärztlicherseits eine Indikation besteht, die die Not wendigkeit einer alleinigen medikamen tösen und physikalischen Therapie aus- schließt. Diese Entscheidung kann nur vom Arzt getroffen werden. Heilprakti ker und Naturheilkundige verfügen . nicht psychisch bedingter Erkrankungen durch den Arzt. Nach neuesten Schät zungen bedürfen etwa 5 bis 10 Prozent der gesamten Bevölkerung einer psychotherapeutischen Hilfe, da ihre Lebensschwierigkeiten durch die Be tätigung neurotischer Abwehrmechanis men für die private Einflußnahme von Familienangehörigen, Freunden usw. kaum mehr zugänglich sind, wobei man nach W. Cullen unter der Neurose eine funktionelle Nervenerkrankung ohne organischen Befund versteht. So gehört auch die Psychotherapie in die Hand des Arztes oder des klini schen Psychologen, der hierfür beson ders ausgebildet ist. Eine psychische Beeinflussung durch Heilpraktiker und Naturheilkundige kann aus den er wähnten Gründen großen Schaden an richten und dient nur dazu, einem un verantwortlichen Wunderglauben in der Medizin den Weg zu bereiten. Dipl.-Psych. G. Herrmann Akademie-Echo" Seite 5